Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914

Abschnitt 2: Transport des Bataillons über Gießen und Köln nach Aachen

[Sp. 278-279]
Nach kurzer Fahrt war Gießen erreicht und hier ertönte das Signal zum Aussteigen, um die erste gemeinschaftliche Mahlzeit1, bestehend aus einer kräftigen Reissuppe mit Rindfleisch, zu sich zu nehmen. Dieselbe mundete dann auch ganz vorzüglich und bald ertönte auch hierauf wieder das Signal zum Einsteigen. Um sich die Zeit etwas zu verkürzen, war bald ein flotter Skat im Gang, welcher bis Betzdorf ausgedehnt wurde. Hiernach trat der Schlaf in seine Rechte und jeder streckte sich so gut, wie es in dem Abteil ging, aus. Angenehme Unterbrechungen fand dieser Schlaf durch die uns trotz der späten Nachtstunden im überreichem Maße gereichten Liebesgaben. Punkt ¾ 12 Uhr nachts überfuhren wir in Köln unter lautem Hurra und Absingen der „Wacht am Rhein" den schönen Rheinstrom. Hier wurde uns zum ersten Male bewußt, daß wir im Kriegszustand waren, da zahlreiche Scheinwerfer den Himmel nach feindlichen Fliegern ableuchteten. Dann ging es weiter um Köln herum zum Bahnhof Kaltscheuren2, wo die zweite Abfütterung, bestehend aus zwei Würstchen mit Brot und Kaffee, nachts um 3 Uhr stattfand. Eine etwas ungewöhnliche Zeit für diese Kost, aber im Kriege muß sich eben der Magen an alles gewöhnen. Aus der Weiterfahrt erreichten wir gegen 6 Uhr Düren, welches ich wegen meines früheren Aufenthaltes daselbst mit etwas gemischten Gefühlen durchfuhr. Um 8 Uhr passierten wir die in schönstem Sonnenschein liegende alte Kaiserstadt Aachen, um gegen 9 Uhr die deutsche Grenzstation Herbesthal3 zu erreichen. Hier wurde längerer Aufenthalt genommen und unserem leiblichen Wohl durch eine kräftige Erbsensuppe mit Würstchen wieder einigermaßen auf die Beine geholfen. Mit einigen patriotischen Liedern, darunter das von unserem vierstimmigen Chor sehr [Sp. 276] schön gesungene Lied „Des Kriegers Abschied"4, nahmen wir Abschied vom heimatlichen Boden.


  1. Vom Verpflegungsaufenthalt in Gießen schreibt der zur selben Einheit gehörende Landsturmmann Hermann Thome aus Wolzhausen eine Feldpostkarte an seine Frau..
  2. Kalscheuren, heute Stadtteil von Hürth (Rhein-Erft-Kreis).
  3. Herbesthal, bis 1919 deutscher Grenzort zu Belgien, heute Teil der ostbelgischen Gemeinde Lontzen.
  4. Lied von Christian Ludwig Reissig, Melodie von Ludwig van Beethoven 1814.

Persons: Brühl, Otto · Reissig, Christian Ludwig · Beethoven, Ludwig van
Places: Gießen · Betzdorf · Köln · Rhein · Kalscheuren · Düren · Aachen · Herbesthal · Belgien · Lontzen
Keywords: Landsturm-Bataillon Marburg · Truppenverpflegung · Liebesgaben · Truppentransporte · Wacht am Rhein · Flugzeuge · Luftangriffe · Patriotismus
Recommended Citation: „Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914, Abschnitt 2: Transport des Bataillons über Gießen und Köln nach Aachen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/7-2> (aufgerufen am 29.03.2024)