Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpostbriefe des Marburger Studenten Karl Aldag, 1914-1915

Abschnitt 5: 10.1.1915: Brief Karl Aldags aus der Gegend von Lille


Zur Erläuterung siehe den Brief Karl Aldags vom 11.11.1914


Zwischen Lille und La Bassée1, 10. Januar 1915.
Schlamm und Wasser füllen den Schützengraben, Wasser von unten und Regen von oben. Tag und Nacht wird geschanzt, Erde geschaufelt, Wasser geschöpft und gepumpt. Und dabei die Fruchtlosigkeit, daß alles vergeblich ist! Das Wasser bleibt. Und immer weiter fällt Regen in schweren Schauern. Dabei eine das ganze Gemüt bedrückende Nachtdunkelheit, weil jedes Licht verraten würde! Unglaublich düster diese Stimmung, wenn in dem Regen die Dämmerung undurchdringlich einfällt!
Ich kann gestehen, daß oft Ekel mich ergreift gegen das Leben in diesem Schlamm und Dreck und das unausgesetzte, naßkalte, vergebliche Arbeiten. Es sind Strapazen, die kein Mensch im Frieden für die Kräfte wachsen. Eine Geduld und Ausdauer fühle ich in mir, wie ich sie nie kannte und für möglich hielt. Und herrlich ist es, wie gut sich die Leute dareinfinden, wie keinen die Müdigkeit und Verzweiflung überwindet, wenn auch der Unterstand eingefallen ist und Nächte hindurch an einem neuen gearbeitet werven muß. Freudig ist es, zu sehen, wie religiös die Grundstimmung ist, wie — wenn man die Religion als Mittelglied ansteht — die Scheu und Ehrfurcht vor Stillem zu fühlen ist. Frivolitäten kommen kaum mehr [S. 32] vor. Alles wird neu erlebt. Köstlich diese tragisch-späte, ungeschickte Reife und Stille! Bei alten Volksliedern weinen Leute, denen man ganz anderes zutraute, die einen wohl gar an das erinnerten, was man früher Proleten nannte. Vaterlandslieder, Soldatenlieder und Choräle fließen mit ganz neuer, ungehemmter Unmittelbarkeit hervor. Fast immer auf Nachtposten hört man Choräle singen. Da war ein Kerl, mit dem ich gestern morgen noch im Graben Posten stand, der sang einen Choral und dann eines von diesen alten, langsamen, immer etwas traurig klingenden Soldatenliedern, ein trotz aller Strapazen fröhlicher Bauernkerl — und einige Stunden später lag er tot, mit dem Gesicht im Dreck. Das Glück in diesem reichen, unmittelbaren Erleben unseres Volkes ist mir sehr wertvoll, zumal es sicher eine Neugestaltung ist.


Karl Aldag fiel fünf Tage nach dem Schreiben dieses Briefes bei Fromelles.


  1. La Bassée, Ort zwischen Lille und Béthune.

Persons: Aldag, Karl
Places: Lille · La Bassée · Béthune · Fromelles
Keywords: Feldpost · Feldpostbriefe · Schützengräben · Witterung · Proleten · Vaterlandslieder · Soldatenlieder · Choräle · Alltag im Schützengraben
Recommended Citation: „Feldpostbriefe des Marburger Studenten Karl Aldag, 1914-1915, Abschnitt 5: 10.1.1915: Brief Karl Aldags aus der Gegend von Lille“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/60-5> (aufgerufen am 25.04.2024)