Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpostbriefe des Marburger Studenten Karl Aldag, 1914-1915

Abschnitt 1: 11.11.1914: Brief Karl Aldags aus Flandern

Karl Aldag wurde am 26. Januar 1889 in Obernkirchen (heute Landkreis Schaumburg, Niedersachsen) geboren. Er studierte Geisteswissenschaften an der Universität Marburg. Die fünf hier wiedergegebenen Briefe schrieb er zwischen dem 11. November 1914 und dem 10. Januar 1915 von der Westfront. Er fiel am 15. Januar 1915, wenige Tage vor seinem 26. Geburtstag, bei Fromelles, einer französischen Gemeinde westlich von Lille.


Flandern, 11. November 1914.
Am 14. kamen wir zum Regiment und wurden auf die Kompagnien verteilt. Nachts marschierten wir in ein Dorf, das von einem bayrischen Regiment erobert war. Wir lösten die Bayern ab; es war eine sehr weit vorgeschobene Stellung und nicht befestigt, sehr gefährlich, wie sich bald herausstellte. Wir lagen in den verlassenen Häusern, auf Stroh, sehr dicht zusammen. Am ersten Tag gegen Mittag ging es los, Granaten und Infanteriesalven regneten in das Dorf; wir gingen in den Keller; als aber alles näher kam, mußten wir hinaus zur Verteidigung. Wir hatten keine Schützengräben oder sonst gedeckte Stellungen und waren dem Granatfeuer sehr ausgesetzt, den ganzen Nachmittag; das waren schwere Stunden voll Entsetzen und Schrecken. Abends ging dann die Schießerei nochmals los (bis ½ 10). Der Kontrast mit dem friedlich sich niedersenkenden Abend war erschreckend und traurig; die Sterne standen so ruhig und voll tiefen Leuchtens über dem Gefecht, das war doch schön.
Den 19. Oktober machten sie den Angriff. Von drei Seiten Artilleriefeuer. Die Infanterie kam so nahe an uns heran, daß wir die Kommandos verstehen konnten. Da fiel auf einmal Artillerie von uns ein, und sofort stockte alles; dann begann ein fröhliches Schießen, sie hatten starke Verluste und bald war alles still. Wenn sie Courage gehabt hätten, wären wir an dem Tage verloren gewesen. Wir standen wie in einem Hufeisen, hatten aber trotzdem nur wenig Verluste. Die [S. 27] Stimmungen dieses Nachmittags kann ich nicht beschreiben, Angst vor dem Tode habe ich keinen Augenblick empfunden; man gibt sich dem Verhängnis frei hin, wen es treffen soll, den trifft es doch.
Darauf machten die Franzosen keinen Angriff wieder, wohl aber beschossen sie uns oft und stark, besonders die englischen Schiffsgeschütze, die ein grausiges Getöse machten. Wir schafften eine immer sicherere und befestigtere Stellung. Interessant war auch ein Vorposten von 24 Mann, der bei Tage nicht abgelöst werden konnte, weil man durch das Schußfeld der Franzosen hätte gehen müssen; man mußte also 24 Stunden stehen, natürlich nachts abziehen, es war 150 Meter vom Feind entfernt oder noch näher. Dicht vor uns schoß feindliche Artillerie ab, links hinter uns lag feindliche Infanterie. Als ich oben war, war am Tag Gefecht, wir konnten des Abends nicht abgelöst werden, lagen 48 Stunden und die Nacht darauf auch noch, also zusammen 60 Stunden, d.h. 3 Nächte, zum Teil im Regen und in dauernder Wachsamkeit. Solche Posten und Anforderungen machen mir Freude; ich bin stolz, ihnen gewachsen zu sein.
Unser Zweck hier ist, die Stellung zu halten, Durchbruch zu verhindern und zu warten, bis der rechte Flügel (Calais!) mit uns in einer Linie steht. Dann geht es vorwärts. Auf dem rechten Flügel scheint es ja siegreich vorzugehen, immer gerade in diesen Tagen häufen sich Nachrichten, Dixmuiden sei gefallen, Amerika habe England den Krieg erklärt, 1000 Franzosen seien heute übergelaufen, viele gefangen genommen usw. Der Kanonendonner aus der Ferne hört nie auf. Ich freue mich, wenn es auch bei uns losgeht, wir auf Paris losrücken.
Für alles, was Ihr geschickt habt, danke ich Euch immer und tief; mehr noch erfüllen mich Eure Briefe mit Frömmigkeit und Liebe. Eure Gedanken und Gefühle lassen die wundertiefe Elternliebe so herrlich und groß erkennen, daß ich sie nicht genug oft lesen kann. Es ist mir, als müßte ich, wenn wir uns Wiedersehen, Eure lieben alten Hände, Eure Stirn und Eure Augen küssen, wie etwas Heiliges. Gott wird mit uns sein; ich habe ein starkes Vertrauen. Allerdings, wenn ich bedenke, wie alle Soldaten, besonders die Landwehrmänner und Familienväter zu Hause erwartet werden, wie für alle gebetet wird, und wie viele schon Trauer und Unglück tragen müssen, dann kommt es mir wie eine nicht zu ermessende, wie eine unverdiente Gnade, wie ein [S. 28] Wunder vor, wenn gerade ich die Erfüllung dieser Bitten erleben sollte.

Ich fühle mich stolz, wenn Ihr so stolz von mir schreibt, und so demütig, wenn ich an das mögliche Schicksal denke. Stolz bin ich, da ich weiß, daß unser Haus durch mich das Schicksal des Vaterlandes mitschaffen hilft und ich selbst dafür ein Opfer bringen kann.
Heute, am 13. November, um 10 Uhr, war Feldgottesdienst. In einer Dorfkirche, die schon als Krankenlazarett gedient hatte, und in der Stroh lag, die mit Gewächshauspflanzen und Blumen ausgeschmückt war, verlas ein evangelischer Divisionspfarrer eine Bibelstelle, wir sangen ein Lied („Mir nach, ihr Christen"). Dann folgte eine Predigt, dann wieder der Choral „Nun danket alle Gott". Es war eine ergreifende Feier, voll Heimatgedanken, voll nach innen gekehrter, männlich tiefer, schmerzlicher Andacht, gläubigen Hoffens, frommen Dankes. Die Leute erzählen sich untereinander viel davon, wieviel frommer unser Volk geworden sei durch diesen Krieg; es ist rührend, die Leute so von selbst zu unsereinem vertrauensvoll davon reden zu hören; Spötter wagen nicht mehr laut zu werden, oder gibt es gar keine mehr.
Ich danke der lieben Mutter für den kleinen Gottesgruß aus dem Psalter, der mir innig wohlgetan hat. Und so lebt denn wohl, Ihr Lieben, mit denen ich immer zusammenlebe in dieser großen, starken, andächtigen Zeit, an die zu denken mich stärkt und frömmer macht.


Persons: Aldag, Karl
Places: Obernkirchen · Schaumburg · Marburg · Fromelles · Lille · Flandern · Calais · Diksmuide · USA · Paris
Keywords: Feldpost · Feldpostbriefe · Universitäten · Studenten · Granaten · Infanteriefeuer · Schützengräben · Granatfeuer · Artilleriefeuer · Infanterie · Todesangst · Schiffsgeschütze · Franzosen · Kanonendonner · Feldgottesdienste · Lazarette
Recommended Citation: „Feldpostbriefe des Marburger Studenten Karl Aldag, 1914-1915, Abschnitt 1: 11.11.1914: Brief Karl Aldags aus Flandern“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/60-1> (aufgerufen am 24.04.2024)