Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Heinrich Schulz, Dienst und Leben hinter der Front, 1915-1917

Abschnitt 3: Zeitvertreib und Unterhaltung

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War der größte Schmutz erst einmal von uns entfernt und fühlte man sich wieder ein bißchen als Mensch, dann wurde auch für Unterhaltung gesorgt. Das geschah aber nicht etwa durch Unterhaltungsmusik, die hatten wir nicht nötig, sondern durch anregende Appells. Wenn man da alles in sauberem und tadellosem Zustand vorzeigen mußte, merkte man erst, was man so alles mit sich herumschleppte. Besondere Aufmerksamkeit wurde natürlich der „Braut" des Soldaten gewidmet. Auch sonst gab es noch allerhand Kurzweil: Drahthindernisse anlegen, spanische Reiter bauen, Übungsstellungen schaffen, zuweilen auch an diesen die akrobatischen Fähigkeiten vervollkommnen u. a. Durch die rege Sammeltätigkeit wurde unsere freie Zeit ebenfalls teilweise in Anspruch genommen. Wegen der Knappheit der Metalle und anderer Rohstoffe in der Heimat mußte alles, was noch von Wert war, gesammelt werden, z. B. alte, früher in den dichten Argonnen verlorengegangene Waffen und Waffenteile, Patronenhülsen, kupferne Führungsringe von Granaten, Alteisen, altes Lederzeug, Brennesseln und dgl. Doch blieben hier und da auch Stunden übrig, die der Gemütlichkeit gewidmet werden konnten. Es wurden Erfrischungsräume und Soldatenheime geschaffen, sogar Kinos gebaut. Die Kompanien veranstalteten ab und zu Feiern. Aufgesparte Gelder wurden für diese Tage verwandt, sodaß der Soldat dazu kein [S. 288] Geld besonders auszugeben brauchte. Später wurden auch Feste innerhalb der Bataillone abgehalten. Die Kantine des II. Btl. führte Kamerad Lottermoser aus Kassel. Eines Abends feierten einige Kameraden der 6. Komp. bei einem Faß Bier den Geburtstag ihres Landsmannes Frank von der Sanitätskompanie. Es ging lustig zu, und bald war das Fäßchen leer. Wiederholte Versuche, unseren Kantinengewaltigen zur Herausgabe eines zweiten Fasses zu veranlassen, scheiterten, da bereits Zapfenstreich geblasen war. Was tun? Stoff mußte heran, der Durst war nach 14 Tagen Stellungsdienst riesengroß. Da kam Kamerad Jakob auf den rettenden Gedanken. Er verwandelte sich schnell in einen Leutnant. Das war nicht schwer, wir feierten ja in der Schneiderstube der Sanitätskompanie. Aus dem Uniformrock eines Unterarztes, der Schirmmütze eines Feldwebels und den Gamaschen eines Sanitäters wurde schnell die Uniform des Leutnants zusammengestellt. Dann ging es mit einem Schubkarren und vier Mann zur Kantine. Der „Leutnant" klopfte energisch an die Tür. Bald hörte man von innen: „Ja, wer ist draußen?" — „Leutnant Schütze, 6./83, bitte öffnen!" Schon wurde geöffnet, und Kamerad L. stand in strammer Haltung vor dem vermeintlichen Leutnant. „Herr Leutnant wünschen?" Darauf der Leutnant: „Ich bin heute zur Kompanie gekommen. Kann ich für meine Leute ein Faß Bier haben?" L., die Hacken zusammenreißend: „Jawohl, Herr Leutnant!" „Dann bitte das größte, das da ist." Schnellstens wurde der Befehl ausgeführt, und voller Freude ging's zurück. Was den Bitten der Landser nicht gelungen wäre, gelang dem schneidigen Auftreten des Leutnant Schütze. Am anderen Morgen, als das Bier bezahlt wurde, erfuhr natürlich L. den wahren Sachverhalt. Er nahm es von der humoristischen Seite auf und lachte kräftig mit. — Erzählt von einem, der mit dabei war.


Persons: Frank, Kamerad · Jakob, Kamerad · Lottermoser, Kamerad · Schütze, Leutnant · Schulz, Heinrich
Places: Kassel
Keywords: Appelle · Bier · Geburtstagsfeiern · Heimat · Kantinen · Filmtheater · Leutnante · Rohstoffversorgung · Sammeltätigkeit · Sanitätstruppe · Soldatenheime · Unterhaltung · Verkleidung · Zapfenstreich
Recommended Citation: „Heinrich Schulz, Dienst und Leben hinter der Front, 1915-1917, Abschnitt 3: Zeitvertreib und Unterhaltung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/55-3> (aufgerufen am 23.04.2024)