Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources


Contents

  1. Ausflug nach Marburg, die Stadt als Heerlager
  2. Ausflug nach Marburg, Truppentransporte als Attraktion

↑ Gustav Lehr, Besuch in Marburg in den ersten Kriegswochen, 1914

Abschnitt 1: Ausflug nach Marburg, die Stadt als Heerlager

[Nr. 2]
[...]

Vergangene Woche war Marburg das Ziel zahlreicher Wanderer. Man will doch auch gerne etwas von den militärischen Vorgängen im Lande sehen, so weit sich dies ermöglichen läßt. So machte ich mich denn auch an einem Wochentage auf, um einmal [von Gladenbach1] nach Marburg zu fahren. Ja fahren! Bis Niederwalgern2 ging es, aber nicht weiter. Der Zugverkehr nach Marburg-Cassel war für Zivilisten gesperrt. Ich ging also mit einigen Reisegefährten, die in der gleichen Lage waren wie ich, zu Fuß weiter3. Marburg hat sein Bild gänzlich verändert. Es ist aus einer Studentenstadt ein Heerlager geworden, ein Sammelplatz für den Landsturm und ein Zufluchtsort für die Verwundeten, die teilweise in den Kliniken, teilweise in eigens erbauten Baracken untergebracht sind und durch die Ärzte sowie die Helfer und Helferinnen des "Roten Kreuzes" behandelt und gepflegt werden. Nach einigen Stunden Aufenthalt, in denen ich auch einige Hinterländer Landsturmleute begrüßen konnte, wanderte ich wieder zu Fuß nach Niederwalgern zurück. In meiner Nähe marschieren einige Männer, die einen nicht gerade melodischen Gesang anstimmten. Bald gesellt sich einer von ihnen zu mir, ein Mann Ende der Dreißiger von stattlicher Figur. Er erzählte mir, daß er in Marburg auf der Musterung des Landsturms gewesen wäre. Freilich konnte man seinem Reden und gelegentlichen Singen anmerken, daß er auch noch anderswo als auf der Musterung gewesen war.

"Jetzt ist alles eins", sagte der Mann, "jetzt gibt es keine Sozialdemokraten mehr, aber der Rupp4 gilt jetzt auch nichts mehr". Ich ließ ihn ruhig reden und der Politiker redete auch von selbst weiter. Er war aus dem Kreise Marburg. Jetzt ging es an die Getreidepreise. Das Korn sei zu teuer, Korn müsse billig sein. Weizen dürfe teuer sein. Wer Sonntags Waffeln backen wolle, könne es auch bezahlen. Das Letztere mit den Waffeln wiederholte er noch besonders. Als wir aber in Gisselberg5 ankamen, hörte auf einmal der ganze Vortrag auf. Der Vortragende kehrte kurz entschlossen im ersten Hause von Gisselberg ein. Dieses ist nämlich ein Wirtshaus. Waffeln hat sich der Mann dort wohl schwerlich bestellt.


  1. Der Autor Gustav Lehr war evangelischer Dekan des Hessischen Hinterlands mit Sitz in Gladenbach.
  2. Niederwalgern, Kreis Marburg Biedenkopf, war Ausgangspunkt der Salzbödebahn nach Herborn, die auch über Gladenbach führte.
  3. Die Strecke von Niederwalgern bis Marburg ist etwa 10 km lang.
  4. Gmeint ist der Schneidermeister und Landwirt Johann Rupp (1874-1948) aus Niederwalgern, der von 1912-1918 für die antisemitische Deutschsoziale Partei den Wahlreis Marburg-Frankenberg-Kirchhain im Deutschen Reichstag vertrat.
  5. Gisselberg, südlich Marburg, heute Stadtteil von Marburg.

Persons: Lehr, Gustav · Rupp, Johann
Places: Marburg · Gladenbach · Niederwalgern · Gisselberg
Keywords: Eisenbahn · Landsturm · Verwundete · Lazarette · Rotes Kreuz · Kliniken · Musterung · Sozialdemokraten · Getreidepreise · Reichstag · Reichstagsabgeordnete · Deutschsoziale Partei · Antisemiten
Recommended Citation: „Gustav Lehr, Besuch in Marburg in den ersten Kriegswochen, 1914, Abschnitt 1: Ausflug nach Marburg, die Stadt als Heerlager“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/25-1> (aufgerufen am 25.04.2024)