Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916

Abschnitt 3: Patriotische Stimmung in Biedenkopf

[Sp. 231-232]
Die Fuhrwerke rollen heran, denen die Aufgabe zufällt, die amtlichen Befehle in die Ortschaften des Kreises zu be­fördern, hier und dort werden Fahnen gehißt zum Zeichen des Beifalls, den die befreienden Worte unseres Kaisers gefunden, und als die Dunkelheit hereinbricht, zieht man aber­mals in dichten Scharen durch die Straßen: ein Jeder fühlt, daß etwas geschehen muß, die Menschen drängen nach Vereinigung und dürsten nach dem Augenblicke, da sie gemeinsam singen können. Und da liegt nichts näher, als zum Krieger­denkmal zu ziehen, Kopf an Kopf steht die Bürgerschaft und aus voller Brust erschallen begeisterte Gesänge. Ein Schau­spiel von gewaltiger, von zündender Wirkung! Unvorbereitet und doch mit packenden Worten wendet sich Bahnmeister Meibohm an die Versammelten, besonders an die Krieger und er versteht es, den richtigen Ton zu finden, der in dieser hehren Abendstunde zum Herzen dringt. Jubelnd ertönt am Schlusse seiner Ansprache die Nationalhymne über den weiten Marktplatz. Kurz zuvor hatte das Grenzgangskomitee bei Carl Schmidt seine Sitzung geschlossen. Das schöne Heimat­fest, für das die Vorbereitungen schon ihrer Vollendung entgegengeführt schienen, war abgetan und die Freude, die sein Wiedererscheinen weit und breit geweckt, zu nichts geworden. Doch eine andere Freude war an des Festes Stelle getreten: der mächtige Drang nach einem größeren Grenzgang, nach einem Gang an des Vaterlandes Grenze. Da muß denn freilich solch' ein heimatliches Fest zurückstehen und wehmütig hatte der Festausschuß nichts anderes zu tun, als die Vor­bereitungen für das Fest einzustellen. Dann aber kommen die Komiteemitglieder auch zum Denkmal und Bürgermeister Grünewald richtet ebenwohl eine packende Ansprache an die nach vielen Hunderten zählende Menschenmenge, er ruft den ausziehenden Kriegern ermutigende Worte zu und vertröstet die Bürger auf den nächstjährigen Grenzgang, der dann um so schöner und glänzender begangen werden solle, „Deutschland, Deutschland über alles" schallt es zum Schlusse aus voller Brust in den herrlichen Sommerabend hinein.

Eine Begeisterung ohnegleichen, hier wie allerorten. Und sie wird unvergeßlich sein, Jahrhunderte werden verrauschen und manches weltbewegende Ereignis wird im Abgrund der Vergessenheit versinken, aber die treudeutsche Begeisterung und Verbrüderung des Jahres 1914 wird alles überdauern und den fernsten Geschlechtern in unverlöschlichem Glanze als flammendes Wahrzeichen deutscher Vaterlandstreue leuchten. – Die Massen verstreuen sich allmählich. Zwischenzeitlich mit dem Zuge 9 Uhr 44 Minuten sind die ersten Reserveoffiziere abgereist, Rechtsanwalt Block und Regierungssupernumerar Mika. Sie tragen die neue, sehr kleidsame Felduniform und wurden von ungezählten Mitbürgern zur Bahn geleitet, wo kurz vor der Abfahrt Herr Block dem obersten Kriegsherrn ein feuriges Hurra brachte.


Persons: Spieß, Karl
Places: Biedenkopf
Keywords: Grenzgangfeste · Flaggen · Nationalhymne · Kriegerdenkmäler · Patriotismus · Mobilmachung · Reserveoffiziere
Recommended Citation: „Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916, Abschnitt 3: Patriotische Stimmung in Biedenkopf“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/1-3> (aufgerufen am 25.04.2024)