Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916

Abschnitt 11: Abschnitt 11

[Sp. 245-246]
Viele haben den Sedantag dazu benutzt, nach Marburg zu fahren. War es doch bekannt geworden, daß das XI. Armeekorps, das bis dahin auf belgischem und französischem Boden gekämpft hatte, den Oesterreichern zu Hilfe nach dem Osten befördert werden und die Station Marburg berühren würde. Diesem Korps gehören viele unserer Krieger an und darum ist es verständlich, wenn Eltern, Geschwister und Bräute sich aufmachen, ihre Lieben – wenn auch nur Minuten – am Marburger Bahnhofe zu begrüßen. Den meisten gelingt es auch, allerdings vielfach unter Opfern an Zeit und Geduld. Manchmal ist das Wiedersehen erschwert, denn einige unserer Feldgrauen haben sich inzwischen – der Not gehorchend – Vollbärte stehen lassen. Aber ihr herzhaft Wesen haben sie behalten, sie ziehen mit unverminderter Vaterlandsliebe gegen die schändlichen Moskowiter und versprechen, auch sie zu „dreschen“. Für dieses Versprechen empfangen sie von ihren Angehörigen Liebesgaben aller Art, für die sie sich wiederum erkenntlich zeigen durch allerhand im Feindesland erbeutete „Kostbarkeiten“: Franzosenkäppis, belgische Patronen, Fähnchen u.a.m. –

Wer an der Durchfahrt unserer Truppen keinen Anteil nimmt, fährt halt aus anderen Gründen mal nach Marburg. Das militärische Leben in der benachbarten Universitäts- und Garnisonstadt an sich ist abwechslungsreich, dann aber liegen noch immer zahlreiche Landwehr- und Landsturmleute da, die im Drill begriffen sind. Sie alle erfreuen sich guter Bürgerquartiere und können’s aushalten. Sodann sind es die Verwundeten- und Gefangenentransporte, die Marburg berühren und vieles bieten, was neu und eigenartig ist. Der Anblick so vieler Gefangenen weckt so etwas wie Genugtuung und Schadenfreude ins uns, das Elend der Verwundeten aber ist zu groß, als daß es uns nicht nahe gehen, uns nicht rühren sollte.

Daheim in Biedenkopf kennt man solches Schauspiel nicht. Als aber in den ersten Septembertagen wirklich einmal Kunde kommt,. Daß im Drei-Uhrzug einige Verwundete durchfahren würden, gibt es am Bahnhof einen Auflauf sondergleichen. Hunderte Wißbegieriger versammeln sich schon eine halbe Stunde zuvor dichtgedrängt am Bahnhofe, um beim Einlaufen des Zugs gegenwärtig zu sein und ja nichts zu versäumen. Der Frauenverein sendet seine Abgeordneten, den Kriegern Erfrischungen zu bringen. Viel ist von den Verwundeten freilich nicht zu sehen. Sie sitzen in Abteilen zweiter Klasse, Einzelne nur schauen aus den Fenstern auf die Menge, die wie eine Mauer den Platz zwischen Zug und Empfangsgebäude füllt. Einer der Verwundeten ist ein Biedenköpfer, Otto Wehn. Er benutzt den halbstündigen Aufenthalt, um auszusteigen und mit den Seinen zu reden. Im Nu ist er umringt von hundert Menschen, die alle wissen wollen, wo und wann er sich seinen Kopfschuß geholt und was er alles erlebt hat und ob wir gewinnen und dergl. mehr. Der Zug fährt ab, die Neugierigen sind nicht auf ihre Kosten gekommen. Vielleicht reift der Plan eines Reservelazaretts auf Wilhelmshütte und dann, so tröstet man sich, wird man öfter Gelegenheit haben, aus dem Munde verwundeter Soldaten schauerlich-schöne Schilderungen von Schlachtengetümmel zu hören.


Recommended Citation: „Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916, Abschnitt 11: Abschnitt 11“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/1-11> (aufgerufen am 26.04.2024)