Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Gernsheim Karten-Symbol

Gemeinde Gernsheim, Landkreis Groß-Gerau — Von Wolfgang Fritzsche
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1492

Location

64579 Gernsheim, Schafstraße 13 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Darmstadt II

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Wahrscheinlich infolge der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 kam ein erster Jude nach Gernsheim, der den Namen der Stadt als Familienname annahm. Ende des 16. Jahrhunderts zog Salomon Gernsheim nach Worms und begründete dort eine Familie, deren letztes Mitglied, Dr. med. Friedrich Gernsheim noch 1938 dort nachweisbar war.1

Als 1615 die Juden aus Worms fliehen mussten, kam der Rabbiner Abraham Samuel ben Isaak Bacharach nach Gernsheim, wo er noch im gleichen Jahr verstarb. Er wurde auf dem Friedhof in Alsbach bestattet. Im gleichen Jahr erhielt ein Jude namens Beyfuß, der zuvor in Worms gewohnt hatte, Wohnrecht in der Stadt.2

Erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts mehren sich Nachrichten zu Juden in der Stadt. So nennt das städtische Ratsprotokoll 1642 Mahol, dem gestattet wurde, Vieh auf der Weide grasen zu lassen. Der gleichen Quelle ist zu entnehmen, dass um 1651 bereits mehrere Juden in der Stadt lebten. Simon hatte den Antrag gestellt, zur Kirchweih 1651 einen Verkaufsstand aufzuschlagen. Dies wurde ihm ausnahmsweise gestattet, obwohl die Juden eigentlich „in oder zu ihren Heisern feil haben mussten”3. 1668 wurde Seligmann genannt, der als einziger Jude in Stadt und Amt Gernsheim einen auf sechs Jahre befristeten Schutzbrief erhalten hatte. Ob sich das „einzig”, wörtlich heißt es „... ist Jetziger Zeit mehr nicht dan Ein Schutzverwandter Judt mit Nahmen Seeligmann ...”4, auf den auf sechs Jahre befristeten Schutzbrief bezieht oder ob es sich tatsächlich um den einzigen Schutzjuden in der Stadt handelte, muss derzeit noch offenbleiben.

In den Jahren 1715/18 wurden jüdische Gernsheimer im Zusammenhang mit der Rheinfähre erwähnt und 1718 suchte Löw Weyl um die Nutzung einer Weide nach. 1743 lebten sieben Schutzjuden und zwei jüdische Witwen in der Stadt. Nachdem zuvor nur einzelne Juden namentlich genannt wurden, wurde 1763 in Zusammenhang mit diversen Auseinandersetzungen eine Liste mit vier Familien aufgestellt. Dies waren Feist Süßel, Moyses Liebmann, Samuel Isaak und Abraham Weil.5 Bis 1807 stieg die Zahl der jüdischen Einwohner auf 51, die 1811 bürgerliche Namen annehmen mussten. Die entsprechende Liste konnte bislang nicht gefunden werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl weiter und überstieg 1875 100 Personen.6 Vor allem im auslaufenden 19. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg wanderten viele, oft jüngere Leute aus Gernsheim aus. So beispielsweise 1860 der erst 14 Jahre alte Nathan Weil, der nach Chicago emigrierte.7

1924 lebten 32 Juden in der Stadt. Gleichzeitig bestanden zwei jüdische Vereine, der Israelitische Männerverein und der Israelitische Frauenverein. Bis 1933 sank die Zahl der jüdischen Einwohner auf 27.

Am 14. August 1934 zog ein junger Mann durch die Straßen Gernsheim und rief durch einen Trichter: „Wer bei Juden kauft, ist ein Volksverräter. Hinaus mit den Juden! Frauen und Mädchen, die bei den Juden kaufen, sind schlechter als die Juden. Man soll sie am Schwarzen Ort versaufen.”8 Wer in jüdischen Geschäften einkaufte, musste mit Repressalien rechnen. So wurde am 25. Mai 1935 eine Liste mit Namen von Kunden jüdischer Kaufleute am Stadthaus ausgehängt.

In der Pogromnacht kam es auch in Gernsheim zu Ausschreitungen. Menschen wurden geschlagen, getreten, entkleidet, in einen Schrank gesperrt, mit einem Lastwagen zur Bruchmühle gefahren und dort misshandelt. Die Wohnung von Siegfried Strauß, der einen Teil der Synagogeneinrichtung bei sich aufbewahrte, wurde aufgebrochen und das Mobiliar zum Fenster hinausgeworfen, zerstört und gestohlen. In der Marmeladenfabrik Nahm zertrampelten Nazischergen gezuckerte Pflaumen, im Schuhgeschäft Helu zerstörten sie etwa 80 Paar Schuhe.9

Von den 27 Juden, die 1933 noch in Gernsheim wohnten, wurden 13 im Holocaust ermordet und/oder nach dem sogenannten Dritten Reich für tot erklärt. Ein weiterer, der Opernsänger Hermann Nahm, zog den Freitod der Deportation vor. Er war der Sohn von Sigmund Nahm, der in Gernsheim eine Fabrik für Russische Pflaumen unterhielt.

Betsaal / Synagoge

Bereits im 17. Jahrhundert existierte in der Stadt eine Synagoge, denn nachdem im Dreißigjährigen Krieg die Synagoge in Groß-Gerau zerstört worden war und zunächst keine neue erbaut werden durfte, mussten die dortigen Juden bis Mitte des 18. Jahrhunderts die Synagoge in Pfungstadt oder Gernsheim besuchen. In Gernsheim befand diese sich im Haus der Familie Hügel. Als dieses Haus 1770 versteigert werden sollte, trug es den Zusatz „Judenschule”.10 Da bereits 1779 abermals ein Haus mit dem Zusatz „Judenschul” versteigert werden sollte, ist unklar, ob die erste Versteigerung tatsächlich stattgefunden hat. Bis 1842 unterhielt die Gemeinde im ersten Stock des Hauses Ecke Wallstraße/Magdalenenstraße einen Betraum.

Bereits seit 1832 gab es erste Bestrebungen, der anwachsenden Gemeinde in einer neuen Synagoge mehr Platz zu verschaffen. Die Baukosten sollten durch regelmäßige freiwillige Spenden der Gemeindemitglieder aufgebracht werden, was sich angesichts derer wirtschaftlichen Verhältnisse als kaum realisierbar erwies. Bis Anfang der 1840er Jahre war erst ein Drittel der notwendigen Summe zusammengetragen. Als die Stadt ein neues Gefängnis bauen wollte und einen Bauplatz in der Wallstraße aus jüdischem Besitz erworben hatte, hatte sie der Gemeinde zugesagt, ihr einen 30 Klafter großen Bauplatz für die neue Synagoge zur Verfügung zu stellen. Dieser befand sich in der Schafgasse, was die Gemeinde aber zunächst ablehnte, weil er zu weit vom Stadtzentrum entfernt lag. Wenig später erwarb sie mit Unterstützung eines Zuschusses aus der städtischen Kasse einen Bauplatz ebenfalls in der Schafgasse aus den Händen von Adam Mergler. Es sollte nicht lange dauern, bis durch das stetige Wachsen der Stadt die Synagoge nicht mehr an ihrem Rande, sondern nahe am Zentrum lag.

Die Kosten des Neubaus wurden auf 3.500 Gulden taxiert. Der Gemeindevorstand bescheinigte am 28. Februar 1844, dass der Neubau zweistöckig erfolgen sollte. Er erhielt „eine schöne Ansicht und gibt eine Zierde an der Straße”11. Im März 1844 wurden die Arbeiten durch den Kreisbaumeister Michael Mittermayer aus Bensheim vergeben. Mittermayer hatte auch die Bauleitung inne.

Am 10. Januar 1845 fand die Einweihung der neuen Synagoge, die auch eine Lehrerwohnung barg, statt. Das Gebäude war ein zweigeschossiger Massivbau über hohem Sandsteinsockel und stand mit einem Satteldach gedeckt giebelständig zur Straße. Der Eingang befand sich zentral in der straßenseitigen Giebelwand. Wesentliche Gliederungselemente waren die hochrechteckigen gekoppelten Fenster mit segmentbogigem Abschluss in profilierten Steingewänden, die kräftigen Sohlbänke sowie das eingezogene Traufgesims. Im Giebeldreieck befand sich ein halbrundes Rosettenfenster.12 Wahrscheinlich dienten diese Gestaltungselemente als Vorbilder beim Bau der etwa 25 Jahre später entstandenen Synagogen in Bischofsheim und Biebesheim.

Bei der Einweihung hielt der orthodoxe Darmstädter Rabbiner Dr. Auerbach die Festpredigt. 1870 erfolgte der Ausbau der Frauenempore. Ab dieser Zeit standen 44 Männer- und 24 Frauenplätze zur Verfügung.13 1882 wurde das Gelände durch Ankauf benachbarter Grundstücke erweitert.

1895 erhielt die Gemeinde eine Spende in Höhe von 300 Mark von Wilhelm Levy und Consorten aus Frankfurt zur Sanierung der Synagoge. Dabei wurden unter anderem die schadhaften Mauerbögen über den Fenstern in Backstein neu aufgemauert, die Fenster repariert, die Decke über dem Synagogenraum neu angelegt, die Unterseite der Empore geweißt, alle Wände mit einem Leinfarb-, das Holzwerk mit einem Ölfarbenanstrich versehen, die Tafel vor dem Vorbeterstand mit Ölfarbe angestrichen und marmoriert. Die Decke erhielt drei neue Rosetten, Friese und Eckverzierungen, die Wände einen Leinfarbenanstrich ebenfalls mit Linien und Friesen. Auch die Außenwände wurden farbig angelegt. Insgesamt beliefen sich die Kosten auf 870 Mark.14

Weitere Bauunterhaltungen fanden in den folgenden Jahren statt.

Mit Verkaufsurkunde vom 1. April 1938 verkauften die beiden verbliebenen Vertreter der Gemeinde Siegmund Nahm und Hermann Weil die Synagoge für 3.800 Reichsmark an die Milchabsatzgenossenschaft e.G.m.b.H. Gernsheim. Diese richtete darin unter anderem eine Milchsammelstelle ein.15 Der mit dem Umbau beauftragte Architekt Friedrich Schnatz veränderte die Außenansicht des Gebäudes, beispielsweise indem er die Fenster zu schlichten Rechteckfenstern umbauen ließ.16

Zur Vorbereitung des Verkaufes verbrachte Siegfried Strauß einen Teil der Kultgeräte in seine Wohnung, wo sie in der Pogromnacht zerstört oder gestohlen wurden. Die fünf Thorarollen waren zuvor in das für Gernsheim zuständige Rabbinat II Darmstadt gebracht worden. Ein Teil der Einrichtungsgegenstände war auch nach Groß-Gerau gebracht worden. Dort ließ sich aber schon um 1960 nicht mehr feststellen, um was es sich im Einzelnen gehandelt hatte.17

Ein Oberfenster der Synagoge, das der Weißbinder Johannes Heß nach der Pogromnacht an sich genommen hatte, befindet sich heute ebenso im Museum Gernsheim, wie zwei Kassenbücher der jüdischen Gemeinde von 1861 und 1871. Dies dürften die einzigen erhaltenen schriftlichen Unterlagen der Gemeinde sein.

Noch 1985 diente das Gebäude als Verkaufsstelle der Starkenburger Milch-Liefervereinigung. Seit 1988 erinnert eine Gedenktafel an die Geschichte des Hauses. Ebenfalls 1988 wurde auf dem Friedhof ein Gedenkstein mit den Namen der ermordeten Gernsheimer Juden gesetzt.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Die 1845 erbaute Synagoge verfügte auch über eine Mikwe, die aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch genutzt wurde.

Cemetery

Die Verstorbenen aus Gernsheim wurden auf dem Friedhof in Alsbach bestattet. Dort sind den Grabsteinen mehrfach auch Hinweise auf ehemalige Gemeindevorsteher zu entnehmen: So starb 1743 Sarle, die Ehefrau des Vorstehers Chawer Löw18, wenige Jahre später, 1747, verstarb der Gemeindevorsteher und Fürsprecher der Landjuden Moses19. 1751 wurde der Gemeindevorsteher Meschulam (Feis) bestattet, der seinerseits abermals Sohn eines Vorstehers war20 und 1796 die Tochter des Vorstehers Jacob21. Insgesamt haben sich auf dem Friedhof in Alsbach 123 Grabsteine von Juden aus Gernsheim erhalten.

Alsbach, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Alsbach, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Fußnoten
  1. Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 20
  2. Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 59
  3. Zitiert nach Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 60
  4. Zitiert nach Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 57
  5. Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 72
  6. Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 76
  7. Schleindl, Verschwundene Nachbarn, S. 101
  8. Becker, Juden in Gernsheim, S. 465
  9. Schleindl, Verschwundene Nachbarn, S. 102
  10. Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 20
  11. HStAD G 15 Groß-Gerau, L 23
  12. Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 24
  13. Altaras, Synagogen, S. 302
  14. HStAD G15 Groß-Gerau, L 23
  15. Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 41
  16. Abgedruckt in Hertling, Jüdische Gemeinde Gernsheim, S. 29
  17. HHStAW 518, 1476
  18. Heinemann/Wiesner, Der jüdische Friedhof in Alsbach, S. 110
  19. Heinemann/Wiesner, Der jüdische Friedhof in Alsbach, S. 111
  20. Heinemann/Wiesner, Der jüdische Friedhof in Alsbach, S. 109
  21. Heinemann/Wiesner, Der jüdische Friedhof in Alsbach, S. 114
Recommended Citation
„Gernsheim (Landkreis Groß-Gerau)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/37> (Stand: 22.7.2022)