Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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5523 Neuhof
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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 91. Neuhof

Flieden Karten-Symbol

Gemeinde Flieden, Landkreis Fulda — Von Susanne Gerschlauer
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1562

Location

36103 Flieden, Hinzergasse 8 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Fulda

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Der Ort wurde 806 erstmals erwähnt. Die Grundherrschaft sowie das Patronatsrecht lagen beim Kloster Fulda. Verwaltungstechnisch lag Flieden im Amt Neuhof. Die herrschaftliche Zuordnung war wechselvoll. So gehörte Flieden von 1803 bis 1806 zum Fürstentum Nassau-Oranien-Fulda im Fürstentum Fulda. Von 1806 bis 1810 gehörte es zum Kaiserreich Frankreich, bis 1813 zum Großherzogtum Frankfurt. Seit 1816 bis 1866 zählte es zum Kurfürstentum Hessen, bevor es 1867 bis 1945 in das Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, überging. Seit 1946 gehört Flieden zum Land Hessen im Kreis bzw. später Landkreis Fulda mit der Zuordnung zum Regierungsbezirk Kassel. Seit 1945 liegt das zuständige Justizamt und Amtsgericht in Fulda, zuvor in Neuhof. Im Rahmen der Gebietsreform 1972 wurde Flieden zu einer Großgemeinde aus insgesamt acht Ortsteilen, teilweise mit zugehörigen Weilern. In der Großgemeinde mit Flieden als Hauptort lebten 2020 8.582 Menschen.1

Flieden lag geografisch günstig an wichtigen Handelsverbindungen wie der Route zwischen Frankfurt am Main und Leipzig, diese Lage zog vermutlich bereits im Mittelalter Juden in die Gemeinde. Seit dem 16. Jahrhundert gibt es hierzu Belege. Sie wurden mutmaßlich durch die Verwaltung des Klosters Fulda geduldet, wenn nicht sogar gezielt angesiedelt. In Archivalien werden bereits für das Jahr 1562 Juden in Flieden als Hausbesitzer erwähnt. Im 17. Jahrhundert wurden vier steuerpflichtige Juden am Ort notiert. Während der Regentschaft Kardinals Bernhard Gustav von Baden-Durlach, Fürstabt von Fulda (1671-1677), wurden 1671 bis auf fünf Familien alle Juden aus dem Herrschaftsgebiet des Klosters Fulda ausgewiesen. Diese Ausweisung betraf auch namentlich bekannte Juden aus Flieden. Allerdings kehrten bereits einige von ihnen nach etwa einem Jahr wieder zurück und bezogen ihre bisherigen Wohnungen.2 1790 wurden 25 Juden in Flieden gezählt. 1826 lebten in neun Haushalten 44 jüdische Menschen.3 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich Juden aus benachbarten Orten in dem zentral gelegenen Ort an. Darunter Seligmann Katzmann und Aron Adler aus Heubach und Maier Goldschmidt und Jesaiah Katz aus Uttrichshausen.4 Um 1870 lag die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde mit 39 eher niedrig. Dagegen erreichte sie 1885 mit 86 Mitgliedern einen hohen Stand.5 1887 lebten 83, 1905 86 (Anteil ca. fünf Prozent bei 1.581 Personen Gesamtbevölkerung) und 1933 noch 50 Juden und Jüdinnen in Flieden.6

Die jüdische Gemeinde wurde 1824 gegründet, man lebte nach orthodoxem Ritus. Es gab einen Vorsänger und Schächter.7 Die Beziehung zwischen der jüdischen Gemeinde Flieden und der im ca. fünf Kilometer nordöstlich gelegenen Neuhof waren gut nachbarlich. Religionslehrer wurden zeitweise gemeinsam finanziert, Neuhofer jüdische Kinder wurden mitunter in Flieden unterrichtet, Religionslehrer von Flieden unterrichteten bei Bedarf auch in Neuhof. Zudem wurde 1905 von beiden Gemeinden ein gemeinsamer jüdischer Friedhof neu angelegt. Allerdings erfolgte die beiderseitige Ablehnung einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Idee, die Gemeinden zu einer einzigen zusammen zu legen.8

Schon 1824 und noch um 1835 war Liebmann Katzmann Vorsteher der jüdischen Gemeinde9, um 1870 bis 1901 war dies Jacob Stern. Unter seiner Ägide wurde die Synagoge neu errichtet, für deren Fertigstellung die Gemeinde öffentlich um Spenden bat.10 Von 1901 bis 1924 hatte Salomon Katz das Amt des Vorsitzenden inne. Um 1924 bis zur erzwungenen Auflösung der jüdischen Gemeinde, vermutlich 1936, folgte ihm Nathan Katz.11

Die jüdische Gemeinde betrieb einen Frauen- und Mädchenverein, einen Jungmädchenverein sowie einen Männerverein.12 Salomon Katzmann war 1894 Mitbegründer und 27 Jahre lang Vorsitzender, später Ehrenvorsitzender, der Freiwilligen Feuerwehr Flieden.13 Weitere sieben Mitglieder der jüdischen Gemeinde waren auch Mitglieder in der Freiwilligen Feuerwehr. Darüber hinaus engagierten sich die jüdischen Fliedener in Turn- und Sportvereinen. Die Mehrheit der Fliedener Juden wohnte in Nachbarschaft zur Hinzergasse mit Synagoge und Schule. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1935 verteilten sich die Wohnlagen über das Gebiet des Ortes mit Schwerpunkten u.a. in der heutigen Magdloser- und Hauptstraße sowie der Zentstraße.14 Ihren Lebensunterhalt verdienten die Juden überwiegend im Viehhandel, als Metzger, Sattler, Polsterer, Makler, Wanderhändler und Handwerker. Nathan Katz besaß ein Geschäft in Flieden.15

Einige der jüdischen Fliedener waren bereits vor 1900 aus Deutschland ausgewandert. Laut Angabe der Gemeindeverwaltung wurden nach 1933 31 Umzüge innerhalb Deutschlands gemeldet. 36 Personen wanderten bereits 1931 und in den folgenden Jahren ins Ausland (USA, Niederlande, Großbritannien, Südafrika) aus. 20 Menschen jüdischen Glaubens zogen in den Jahren nach der Machtübergabe an Hitler aus Flieden weg in größere deutsche Städte.16

23 in Flieden längere Zeit lebende bzw. dort geborene Bürger und Bürgerinnen jüdischen Glaubens wurden in Vernichtungslager deportiert und überlebten den Holocaust nicht. Darunter war das Ehepaar Hulda (oder Hilda) und Markus Goldschmidt, Träger des Eisernen Kreuzes, oder Elli Loewenstein geb. Wallach, mit ihrer Familie, die nach Riga deportiert und dort ermordet wurde. Auch Emilie Baruch geb. Katz, wurde am 15.9.1942 zusammen mit ihrem Ehemann in das KZ Theresienstadt deportiert und von dort nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden. Zerline Klein wurde am 16.6.1942 über Frankfurt nach Theresienstadt deportiert und ebenfalls ermordet.17 Außerdem wurden die folgenden Fliedener Juden deportiert und ermordet: Paula Jakob geb. Katzmann, Jakob Jakob, Isidor Seliger, Berta Sonn, Max Stern.18

Betsaal / Synagoge

Ein erstes Gebäude mit einem Betsaal und mutmaßlich einer Mikwe lag in der Hinzergasse/Ecke Magdloser Straße, auf der südwestlichen Seite der Kreuzung. Dieses Gebäude war wohl etwa seit der Jahrhundertmitte baufällig und zu klein für die Gemeindezwecke. Daher wurde es zugunsten eines Neubaus aufgegeben. 1876 wurde am selben Standort die Religionsschule mit Mikwe neu errichtet.19

Um 1869 wurde vermutlich der Neubau der Synagoge, die auf dem Grundstück beim „Schafgarten“ der ehemaligen Schäferei gebaut werden sollte, geplant.20 Bislang nicht bekannt ist, von wem das Gebäude geplant wurde und wer die Arbeiten ausführte. Die Finanzierung des Neubaus wurde unter anderem durch Spendenaufrufe realisiert, wozu 1870 öffentlich aufgerufen wurde.21

Der Synagogenneubau wurde am westlichen Rand des historischen Ortes, Flur 10, Flurstücksnummer 98/5 errichtet, damals wie heute mit Hausnummer 8. Seine Lage in der schmalen Hinzergasse war nur rund 70 Meter nordwestlich von dem alten Standort entfernt, damit jedoch auch von der Durchgangsstraße, der heutigen Magdloser Straße, in eine enge Gasse verlegt und somit im Dorfbild weniger auffallend.

Die folgende Beschreibung bezieht sich auf historische s-w-Fotos aus den Jahren um 1925:22 Das freistehende Massivgebäude liegt etwa 6,50 Meter von der westlich vorbeiführenden Hinzergasse zurückgesetzt. Im Gegensatz zur Mehrheit der übrigen Bebauung in der Hinzergasse stand es giebelständig zur Straße und bot dadurch zusätzlich zu weiteren gestaltenden Merkmalen einen Blickfang. Die Synagoge wurde zur Hinzergasse hin von einer etwa zwei Meter hohen Ziegelsteinmauer begrenzt. Der Rest des Geländes war von einem Staketenzaun umgeben. Die Mauer war mit regelmäßig eingebauten, über die Mauerkrone hochgezogenen Pfosten relativ aufwändig ausgestattet und unterschied sich u.a. dadurch von der umgebenden Wohnbebauung. Die Pfosten waren jeweils mit einer steinernen, pyramidenförmigen Deckplatte belegt. Der Hauptdurchlass, in einer Achse mit dem Hauptportal im Westen, war eingerahmt von zwei Pfosten. Der Eingangsbereich mit seinem zweiflügeligen Portal lag leicht erhöht zur Straßenebene. Das Grundstück um die Synagoge herum war ehemals von Obstbäumen bewachsen. Das schlichte Synagogengebäude war verputzt und mit einem ziegelgedeckten Satteldach versehen. Die bis zum First etwa 8,20 Meter hohe Synagoge verfügte innen mit etwa 9,60 Metern Länge und etwa 7,20 Metern Breite über rund 70 Quadratmeter Grundfläche.23 Das Massivgebäude wurde im Aufgehenden aus Ziegelsteinen errichtet, der davon durch einen kleinen Versprung abgesetzte Sandsteinsockel aus Quadern des in der Region anstehenden Gesteins. Der Sockel nimmt in seiner Höhe nach Osten zu und gleicht so das auf dieser Seite abfallende Gelände aus. Die markantesten baulichen Elemente des Gebäudes stellen die Eckquaderung im Läufer-Binder-Verband und die je zwei, durch Faschen betonen rundbogigen Fenster an den Traufseiten dar. Die hohen Holzsprossenfenster mit Fächerabschluss besaßen eine Binnengliederung aus kleinformatigen Quadraten. Durch ihre Form, ihr Format und den weißen Anstrich setzten sie einen klaren optischen Akzent zur umgebenden Bebauung. Im Giebel über dem rechteckigen Hauptportal im Westen befand sich ein Radfenster. Der Ostgiebel wies zwei Rundbogenfenster analog der Fenster in den Traufseiten auf. Sie flankierten den Aron-Hakodesch im Innern.

Der Gottesdienstraum war als Saal errichtet und nach Osten hin, zum Allerheiligsten, orientiert. In der Achse gegenüber des Haupteingangs befand sich in einer Nische oder kleinen Apsis (Höhe ca. 5,30 Meter x Breite ca. 1,5 Meter x Tiefe ca. 1,8 Meter) der Thoraschrein aus Eiche in neogotischer Ausführung, dessen Türen mit einem reich verzierten samtenen Parochet24 verhängt waren und dessen Spitze von den Gebotstafeln bekrönt wurde. Die Wände waren farbig gefasst: Eine aufgemalte, vermutlich umlaufende Lamperie wies einen horizontal zweigeteilten Fries aus mandorlaförmiger Zier mit eingeschriebenem kerzenähnlichem Element auf, darunter, soweit erkennbar, eine stilisierte neogotische balusterartige Gliederung. Das östliche Ende der Nordwand, unmittelbar vor der Ecke, war mit einem breiten Fries aus einer zweiarmigen, nach oben geöffneten vegetabilen Figur mit nach innen geschwungenen Voluten verziert, der oberhalb der Lamperiezone ansetzte. Wahrscheinlich waren die übrigen Wandflächen vergleichbar akzentuiert. Die Fenstergewände zierte ein wellenbandartiges Ornament. Die ungefassten Brüstungsflächen der Fenster fielen schräg nach unten ab, was einen höheren Lichteinfall bot. Die Frauenempore verlief oberhalb des Eingangs im Westen und entlang der Nordwand. Im Westen war sie ca. sieben Meter breit und etwa 2,5 Meter tief, im Norden ca. sieben Metr lang und ca. 1,80 Meter tief. Noch heute befinden sich zwei der schlichten hölzernen Emporenstützen der Frauenempore in derselben Funktion wie zur Bauzeit. Insgesamt gab es in der Synagoge 78 Sitzplätze.25 Die Frauenempore bot 30 Frauen Platz, für die Männer gab es im Erdgeschoss 48 Sitzplätze. Die Entschädigungsakten belegen die folgende Ausstattung: Der Gottesdienstraum wurde in der Raummitte von einem Kristalllüster erhellt, an der Nord- und Südwand waren jeweils vier Wandleuchter angebracht. Der steinerne Fußboden war mit einem Teppichläufer belegt. Es gab ein Lese- und ein Vorbeterpult. Ebenso gab es zwei Gedenktafeln. Es gab eine Garderobe am Eingang. Die Synagogengemeinde besaß neun Thorarollen und 20 Thoramäntel. In der Synagoge gab es offenbar eine Violine eines italienischen Geigenbauers von 1631.26

Das Gebäude wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 im Inneren verwüstet. Die Ausstattung wurde geplündert, Mobiliar, Gebetbücher und ähnliches auf der Straße verbrannt.27 Das Gebäude wurde angesteckt, brannte jedoch nicht vollständig nieder. 1950 erwarb die evangelische Kirche Flieden, heute Flieden-Neuhof, die noch vorhandene Substanz. Das Gebäude wurde zur Kirche umgebaut und seit September 1951 als solche genutzt. Im Rahmen der Renovierungs- und Umbauarbeiten wurde der Dachstuhl neu aufgezimmert und das Dach mit einem Dachreiter für die Glocken versehen. Oberhalb des Westportals wurde ein Vordach sowie an dem Ostgiebel ein neuer Gebäudeteil ergänzt, der seit 1951 als Altarraum dient.28 Durch diese Umbauarbeiten verschwand die ehemalige Ostwand und mit ihr der ehemals hier angebrachte Erker.

An der Außenwand im Westen erinnert eine metallene Gedenktafel in Form der Gesetzestafeln an die frühere Funktion des Gebäudes als Synagoge.

Interessierte Ehrenamtliche gründeten 2014 anlässlich der anstehenden umfassenden Gebäuderenovierung gemeinsam mit dem Fliedener Pfarrer, Holger Biehn, den Förderverein „Evangelische Kirche/ehemalige Synagoge Flieden e.V.“. Mittlerweile ist der Verein wieder aufgelöst. Ziel des Vereins war neben der Finanzierung der Gebäudesanierung auch die Versöhnung beider Geschichten des Hauses, verbunden mit der Erinnerung an das Leben der jüdischen Gemeinde in Flieden. Anlässlich des Jubiläums „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ im Jahr 2021 wird seit Ende 2021 vom Fliedener Pfarrer Biehn mit einem Team eine digitale Ausstellung erarbeitet. Sie wird die Geschichte der jüdischen Gemeinde Fliedens beleuchten, der Schule und der Synagoge, der späteren evangelischen Kirche aber vor allem auch den Blick richten auf einzelne Persönlichkeiten und Schicksale. Die Ausstellung ist für das Frühjahr 2022 im Kircheninneren vorgesehen.29

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Vor der Einrichtung der jüngeren Mikwe befand sich eine Kellermikwe im Wohnhaus von Liebmann Katzmann, der 1835 Vorsteher der jüdischen Gemeinde war. Einen Beleg über die Lage, Ausstattung und den Zustand des Tauchbads von 1835 gibt der Untersuchungsbericht des mit einer Bestandsaufnahme beauftragten Amtsarztes Wiegand vom 24.8.1835.30 Das schlecht gefasste Bad lag in einem tiefen, kleinen Kellerraum ohne Tageslicht. In das Becken führte eine hölzerne Treppe. Das Bad wurde von Quellwasser gespeist, besaß zunächst keinen Abfluss, wurde jedoch etwa seit 1840 unter Zugabe erhitzten Wassers erwärmt. Eine Reinigung des Wassers fand nicht statt. Um 1835 wurde die Mikwe von vier Frauen genutzt. Im Verlauf der Jahre verschlechterte sich der bauliche wie hygienische Zustand weiter. 1849 sollte eine Benutzung behördlicherseits untersagt werden. Der desolate Zustand wurde auch vom Fuldaer Provinzialrabbiner Samuel Enoch erkannt und bemängelt. Die zu dieser Zeit acht Frauen der jüdischen Gemeinde nutzten es bereits seit einiger Zeit nicht mehr. Sie nahmen stattdessen den Weg in das qualitativ nicht viel bessere Ritualbad im benachbarten Neuhof auf sich.31 Bei einer Visitation 1857 wurde festgestellt, dass lediglich die umgebenden Mauerzüge des Gebäudes vor Wegrutschen gesichert und ansonsten keine Verbesserungen durchgeführt worden waren. 1864 wurde die Kellermikwe schließlich aufgrund der anhaltenden hygienischen und baulichen Missstände geschlossen, eine weitere Nutzung untersagt.32 Im Rahmen des Neubaus der Religionsschule 1876 wurde in deren eingetieftem Erdgeschoss auch eine neue Mikwe eingerichtet. Auf demselben Gelände hatte bis 1874 ein Gebäude mit der Hausnummer 42 gestanden, vermutlich war im Keller dieses Gebäudes ebenfalls ein Tauchbad eingerichtet gewesen.33 Das mit dem Neubau der Schule neu eingerichtete Bad im Sockelgeschoss entsprach den Hygienestandards der Bauzeit: Die Kellerebene war kaum in den Boden eingetieft und wurde durch zwei Fenster im Osten und einem im Süden mit Tageslicht und Frischluft versorgt. Der Raum mit dem Tauchbecken war etwa 3,40 x 4,10 Meter groß, in das aufgemauerte Becken führten steinerne Stufen hinab. Der Fußboden des Raums sowie der des ihn erschließenden Vorraums war mit trittsicheren Natursteinplatten belegt. Es gab einen Heizofen und einen Badeofen. Die Erschließung erfolgte vom Kellerflur aus.34 Rund 45 Jahre nach dem Neubau genügte diese Mikwenanlage nicht mehr den hygienischen Ansprüchen. Daher entschied der Gemeindevorsitzende Katz 1922 einen Neubau bzw. eine umfassende Sanierung und legte hierfür privat 100.000 Mark vor. Laut einer Zeitungsanzeige leitete Architekt Schäfer die Baumaßnahme, das ausführende Unternehmen war H. Rieser.35 Die Mikwe wurde noch bis zur Auflösung der jüdischen Gemeinde benutzt, während die Schule bereits seit 1.1.1932 geschlossen war.36

Schule

Das Baugrundstück der 1876 neu errichteten und 1878 eröffneten Schule an der Ecke Magdloser Straße/Hinzergasse befand sich nachweisbar bereits seit 1617 im Besitz jüdischer Familien und war möglicherweise schon vor 1609 bebaut.37 Zuvor befand sich auf dem Platz ein Gebäude, das bis dahin als Zentrum des jüdischen Gemeindelebens diente. In ihm war wohl auch eine Mikwe vorhanden gewesen.

Das neu errichtete, etwa sieben Meter hohe Schulgebäude umfasste neben dem Schulraum die Lehrerwohnung und die Mikwe. Mit ca. 12,10 Metern Länge und ca. 7,20 Metern Breite verfügte es über eine Grundfläche von rund 87 Quadratmetern.38 Zum Gebäude gehörten ein Hof mit Garten.39 Das freistehende Haus mit Satteldach war verputzt, es bestand vermutlich aus Fachwerk. Mit der östlichen Traufseite war es zur Hinzergasse orientiert, mit dem südlichen Giebel zur heutigen Magdloser Straße. Die Erschließung des Gebäudes erfolgte auf der östlichen Traufseite über eine zweiflügelige Holztür in der Mittelachse. Im kaum eingetieften, fast ebenerdigen Keller befand sich in der Südostecke die Mikwe mit ihrem Vorraum. Im Obergeschoss lag im Norden der Schulsaal sowie im südlichen Hausteil die Lehrerwohnung. Das Dachgeschoss besaß neben Lagerräumen, die vor allem im Norden lagen, zusätzlich eine kleine Stube in der Mitte des Südteils. Die natürliche Belichtung des Schulraums im Obergeschoss war durch zwei hochrechteckige hölzerne Galgenfenster im Osten gegeben. Die Wohnung des Lehrers hatte vier Räume inklusive Küche mit Nebenraum und wurde über einen Flur erschlossen, über den auch der Schulraum zu betreten war. Ein Kaminschlot auf der südwestlichen Seite des Gebäudes bot Anschluss für Öfen und ermöglichte somit die Beheizung von Räumen in den Geschossen.

Flieden hatte mit Neuhof um 1852 bis 1878, der Eröffnung der neuen Religionsschule, eine Art Schulverbund. Die Kinder wurden von Lehrer Löb Katzenstein aus Neuhof unterrichtet, er war dafür drei Tage in diesem und drei Tage an jenem Standort.40 1880 wurden in Flieden 11, 1890 mehr als 20 Kinder unterrichtet. Um 1878 bis um 1889 unterrichtete Isaak Flörsheim die Kinder, auch die in Neuhof. Er war der erste Religionslehrer der jüdischen Gemeinde, der auch vor Ort im neu erbauten Schulhaus wohnte. Ab 1890 unterrichteten Salomon Sonn, Simon Freudenberger (seit um 1891 bis 1928) und zuletzt, bis 1931, Samuel Weinberg (1941 nach Riga deportiert und dort ermordet). Während des ersten Weltkriegs war die Religionsschule geschlossen, die jüdischen Kinder besuchten in dieser Zeit die örtliche katholische Schule, in der vermutlich auch Simon Freudenberger unterrichtete.41

Aufgrund deutlich abnehmender Kinderzahl auf schließlich nur noch sechs im Jahr 1931, wurde die Schule auf staatliche Initiative mit Datum vom 1.1.1932 geschlossen.42 1939 erwarb die politische Gemeinde Flieden das ehemalige Schulgebäude im Rahmen einer Zwangsversteigerung, später geriet es in Privatbesitz. 1970 wurde es aufgrund von Straßenerweiterungsmaßnahmen komplett abgerissen. Heute befindet sich am ehemaligen Standort eine Tafel zur Erinnerung an die Geschichte der jüdischen Gemeinde Flieden mit ihrer Synagoge sowie der Religionsschule.43

Cemetery

Auf einen ehemals in der Fliedener Gemarkung möglicherweise gelegenen alten jüdischen Friedhof könnte ein entsprechender Flurname hinweisen, der seit 1708 belegt ist.44 Ob der von Heimatforschern erwähnte Hinweis auf den Flurnamen den realen Ort eines ehemaligen jüdischen Friedhofs begründet, müsste genauer erforscht werden. Eindeutig nachzuweisen ist die Bestattung der jüdischen Fliedener bis Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem jüdischen Gemeinschaftsfriedhof in Fulda. Im Jahr 1905 wurde an der „Galgenhecke“ auf Initiative beider jüdischer Gemeinden ein eigener Friedhof für Flieden und Neuhof angelegt.45 Der Friedhof liegt an der K 163 (ehem. B 40) zwischen Flieden und Neuhof. 1923 erlitt die Stätte erste Schändungen durch Nationalsozialisten, 1934 ein weiteres Mal.46 1947 wurde auf dem Friedhof von den politischen Gemeinden Flieden und Neuhof ein Mahnmal zum Andenken an die durch das Naziregime ermordeten Mitbürger jüdischen Glaubens aus beiden Orten errichtet.47 Das aus Buntsandsteinquadern gemauerte Denkmal ragt über einem Mauersockel empor. Allseitig eingezogen, erhebt sich eine über quadratischem Grundriss errichtete gedrungene Stele, deren oberer Abschluss zweifach gestuft ist und konisch zuläuft. Die vier Ecken rahmen auf allen vier Seiten jeweils ein hochrechteckiges, zurückspringendes Spiegelfeld. Auf den dort eingebauten Sandsteinplatten sind in lateinischen Großbuchstaben die Namen der in der Shoah ermordeten jüdischen Fliedener und Neuhofer graviert. Im nach Osten gelegenen Feld wird in hebräischer Schrift der Ermordeten beider jüdischen Gemeinden gedacht.

Fulda, Alter Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Fulda, Neuer Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Flieden, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Baden-Durlach, Bernhard Gustav von · Katzmann, Seligmann · Adler, Aron · Goldschmidt, Maier · Katz, Jesaiah · Katzmann, Liebmann · Stern, Jacob · Katz, Salomon · Katz, Nathan · Katzmann, Salomon · Goldschmidt, Hulda · Goldschmidt, Hilda · Goldschmidt, Markus · Loewenstein, Elli, geb. Wallach · Wallach, Elli · Baruch, Emilie, geb. Katz · Katz, Emilie · Klein, Zerline · Jakob, Paula, geb. Katzmann · Katzmann, Paula · Jakob, Jakob · Seliger, Isidor · Sonn, Berta · Stern, Max · Biehn, Holger · Katzmann, Liebmann · Wiegand, Amtsarzt · Enoch, Samuel · Schäfer, Architekt · Rieser, H. · Katzenstein, Löb · Flörsheim, Isaak · Sonn, Salomon · Freudenberger, Simon · Weinberg, Samuel

Places

Kassel · Fulda · Neuhof · Frankfurt am Main · Leipzig · Heubach · Uttrichshausen · USA · Niederlande · Großbritannien · Südafrika · Riga

Sachbegriffe Geschichte

Flieden, Frauenverein · Flieden, Mädchenverein · Flieden, Männerverein · Flieden, Jungmädchenverein · Flieden, Freiwillige Feuerwehr · Holocaust · Eisernes Kreuz · Auschwitz, Vernichtungslager · Theresienstadt, Ghetto · Pogromnacht · Shoah

Sachbegriffe Ausstattung

Aron Hakodesch · Thoraschreine · Parochets · Gesetzestafeln · Kristalllüster · Wandleuchter · Teppichläufer · Lesepulte · Vorbeterpulte · Gedenktafeln · Garderoben · Thorarollen · Thoramäntel · Violinen · Gebetbücher

Sachbegriffe Architektur

Ziegelstein · Staketenzäune · Mauerkronen · Pfosten · Portale · Satteldächer · Ziegelstein · Sandsteinsockel · Sockel · Faschen · Holzsprossenfenster · Fächerabschlüsse · Radfenster · Rundbogenfenster · Apsiden · Lamperien · Friese · Frauenemporen · Emporenstützen · Dachreiter · Fachwerk

Fußnoten
  1. Ortsartikel Flieden in LAGIS, Historisches Ortslexikon (siehe Link oben); Ortsartikel Flieden auf Wikipedia
  2. Henkel, Flieden, S. 298; Jüdische Gemeinden: Flieden (s. Weblink)
  3. Henkel, Flieden, S. 298
  4. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 20
  5. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 20
  6. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 178. Andere Zahlen bietet im Gegensatz dazu der Ortsartikel Flieden auf Alemannia Judaica (s. Weblink). Hier werden für 1905 73 (statt 86 bei) und für 1933 60 (statt 50 bei Arnsberg) in Flieden lebende jüdische Mitbürger nachgewiesen. Bei Henkel, Flieden, S. 300, werden für um die Jahrhundertwende 105 jüdische Personen in Flieden genannt.
  7. Henkel, Flieden, S. 303; Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 26
  8. Mündliche Information von Raimund Henkel am 20.1.2022
  9. Henkel, Flieden, S. 346
  10. Der Israelit vom 15.6.1870 (s. Weblink)
  11. Ortsartikel Flieden auf Alemannia Judaica (s. Weblink); Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 57
  12. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 21, 29, 32, 33
  13. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 29; Henkel, Flieden, S. 303
  14. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 40, 45; Henkel, Flieden, S. 299
  15. Ortsartikel Flieden in LAGIS, Historisches Ortslexikon (siehe Link oben); Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 179
  16. Henkel, Flieden, S. 311
  17. Henkel, Flieden, S. 305, 311-312
  18. Gedenkbuch des Bundesarchivs (s. Weblink)
  19. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 53
  20. HHStAW 365, 186; hierin: Urkunde über Verkauf des Grundstücks von 1869; Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 47 f.
  21. Der Israelit vom 15.6.1870 (s. Weblink)
  22. Abbildungen bei Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 47, 48, 51; Henkel, Flieden, S. 307; Altaras, Synagogen, S. 116
  23. Maße vgl. Skizze in Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 49, schriftlich zu finden bei: Henkel, Flieden, S. 307
  24. Laut Inschrift auf dem unteren Drittel des Vorhangs wurde der Parochet 1897 von Pikas und Rosalin Katzmann gestiftet. Vgl. hierzu Website „Bruchlinien“ (s. Weblink), hier unter: „Der Innenraum der ehemaligen Synagoge“ die Übersetzung der Inschrift.
  25. Henkel, Flieden, S. 307; Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 50 f.
  26. HHStAW 518, 1324; siehe auch Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 51 sowie Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 178 f.
  27. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 25
  28. Website „Bruchlinien“ (s. Weblink); Henkel, Flieden, S. 307, 311
  29. Website „Bruchlinien“ (s. Weblink)
  30. Vgl. zur Inventur der Mikwen im Kreis Fulda: HStAM 180 Fulda, 1259: darin auch der Hinweis auf den Zustand der Mikwe in Flieden, 1835; sowie: Altaras, Synagogen, S. 117
  31. HStAM 180 Fulda, 1259; Ortsartikel Flieden auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
  32. Altaras, Synagogen, S. 117 f.
  33. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 54; mündliche Hinweise von Raimund Henkel, Flieden, am 20.1.2022
  34. Altaras, Synagogen, S. 118
  35. Der Israelit, Anzeige vom 14.9.1922 (s. Weblink)
  36. Henkel, Flieden, S. 306; Altaras, Synagogen, S. 117 f.
  37. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 54; Henkel, Flieden, S. 305 bis 307
  38. Gebäudezuschnitt vgl. Handskizze um 1895, abgedruckt in Henkel, Flieden, S. 306; HStAM 180 Fulda, 2388
  39. Henkel, Flieden, S. 307
  40. Henkel, Flieden, S. 347
  41. Schad, Jüdisches Leben in Flieden, S. 55-57
  42. HStAM 180 Fulda, 5084; Henkel, Flieden, S. 306; Altaras, Synagogen, S. 117 f.
  43. Henkel, Flieden, S. 305 bis 307; Ortsartikel Flieden in LAGIS, Historisches Ortslexikon (siehe Link oben); Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 179
  44. Henkel, Flieden, S. 309
  45. HStAM 180 Fulda, 2387
  46. Henkel, Flieden, S. 309
  47. Henkel, Flieden, S. 313; Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 179; Ortsartikel Flieden auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
Recommended Citation
„Flieden (Landkreis Fulda)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/207> (Stand: 26.4.2022)