Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Treis an der Lumda Karten-Symbol

Gemeinde Staufenberg, Landkreis Gießen — Von Susanne Gerschlauer
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

Ende 16. Jahrhundert

Location

35460 Staufenberg, Ortsteil Treis an der Lumda, Hauptstraße 63 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen

religiöse Ausrichtung

liberal

preserved

nein

Jahr des Verlusts

ca. 1955

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Nach den Herren von Mehrenberg und den Grafen von Nassau übten die Schutzbar gen. Milchling ab dem 14. Jahrhundert als Lehnsherren die niedere Gerichtsbarkeit aus. Mitte des 16. Jahrhunderts übernahm bis 1866 die Landgrafschaft Hessen-Kassel, seit 1803 Kurfürstentum, die Verwaltung. Seit 1866 gehörte Treis zum Großherzogtum Hessen.

Bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts sind Juden in Treis wohnhaft.1 Um 1667 sind 25 und 1690 40 in Treis lebende Schutzjuden über die Zähllisten der Ortsherren dokumentiert.2

Die jüdische Gemeinde Treis wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts gegründet, als die Zahl der hier lebenden Juden ausreichend für einen Minjan gewesen sein müsste. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts teilte sich die jüdische Gemeinde Treis mit der Synagogengemeinde aus dem benachbarten Allendorf an der Lumda die Besoldung der Stelle eines Religionslehrers, der gleichzeitig Schochet war. Einer der letzten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, der Kaufmann Levi Wetzstein II., war zwischen 1927 und 1932 Mitglied im Treiser Gemeinderat.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Treiser Juden um 1744 spiegelt eine die Ausweisung nicht solventer Juden betreffende Verordnung des Landgrafen, der eine Treiser Familie aus seinem Herrschaftsgebiet ausweisen ließ, gleichzeitig aber fünf Familien den Status als Schutzjuden weiterhin gewährte.3 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte in Treis die zu dieser Zeit verhältnismäßig wohlhabende Familie Ziegelstein. Sie trat 1811 als Bürge über etwa 50 Reichstaler auf.4 Zur gleichen Zeit und in den folgenden Jahren lag der Verdienst der überwiegend als Händler (Vieh), Kaufleute (Lumpensammler, Trödler, Kleinwaren, Manufakturwaren) und Handwerker (Metzger) lebenden Juden in Treis im Durchschnitt im untersten Einkommensbereich; zwei Familien galten als arm.

Schon vor der Jahrhundertwende waren die Auswirkungen des politischen Antisemitismus in Treis massiv spürbar – schon 1912 erreichte die Antisemitische Partei bei den Reichstagswahlen fast 70 Prozent.5Im Zuge dieser Entwicklung sowie aus wirtschaftlichen Erwägungen entschlossen sich viele jüdische Treiser, aus dem Ort weg und z.B. nach Friedberg oder Frankfurt am Main zu ziehen, manche wanderten nach Amerika aus. 1933 betrug der Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung in Treis nur noch 3,7 Prozent (1828 = 6,9 Prozent, 1875 = 7,2 Prozent, 1900 = 8,4 Prozent).6 Wann die Auflösung der jüdischen Gemeinde Treis vorgenommen wurde, ist bisher nicht geklärt.7

1939 lebten noch 51 jüdische Treiser am Ort. Davon emigrierten bis 1942 19 ins Ausland, zehn verzogen innerhalb Deutschlands. Von sechs Personen ist der Verbleib unklar. Die noch in Treis zurückgebliebenen Juden wurden von ortsansässigen Nationalsozialisten im September 1942 zusammengetrieben und über Gießen und Darmstadt nach Theresienstadt und andere Konzentrationslager deportiert und dort ermordet.8

Betsaal / Synagoge

Vor der Errichtung eines eigenen Synagogengebäudes hielten die Treiser Juden ihre Gottesdienste vermutlich in Räumen eines Privathauses ab. Die Lage ist jedoch unbekannt.

Die Treiser Synagoge stand in einem von der Hauptstraße abzweigenden Weg in der Hauptstraße 63. Sie lag etwas oberhalb, parallel zur durch den Ort verlaufenden Hauptstraße und war zur Nutzungszeit von der Durchgangsstraße her nicht erkennbar, da benachbarte Wohngebäude die Sicht verdeckten. Der Standort befand sich im alten Ortskern an einem Hang, ca. 100 Meter westlich der evangelischen Kirche. Bis zu ihrem Abbruch hob sich die Synagoge von den sie umgebenden Wohn- und Wirtschaftsgebäuden durch ihr Erscheinungsbild ab, wozu auch verputztes Fachwerk und ein Davidstern über dem Haupteingang beitrugen.

Die Synagoge wurde von der jüdischen Gemeinde als solche gebaut und 1829 eingeweiht. Sie stand giebelständig zur Straße, war möglicherweise mit einem Satteldach gedeckt und über annähernd quadratischem Grundriss errichtet. Das zweigeschossige, hell verputzte Fachwerkhaus zeigte bis auf einen oberhalb des im Süden liegenden Haupteingangs angebrachten (hölzernen?) Davidstern und einem schmalen, hölzernen Gurtgesims, das das dahinterliegende Rähm schützte, keine besondere Gliederung. Durch eine dem Haus im Süden vorgelagerte Werksteinmauer, auf der ein schmiedeeiserner Zaun angebracht war, gelangten die Synagogenbesucher in den Hofbereich. Dieser wurde durch ein breites einflügeliges Portal, das über einige Stufen erhöht lag, erschlossen.

Im Erdgeschoss flankierten zwei einfache, zweiflügelige Rechteckfenster mit Oberlicht den in der Mittelachse eingebauten und eventuell über wenige Stufen erhöht gelegenen Haupteingang. Oberhalb der Eingangstür war ein querliegendes, rechteckiges Fenster eingebaut, das dem Innenraum Helligkeit gab. Das Obergeschoss wies in entsprechenden Achsen drei baugleiche Fenster auf.9 Möglicherweise waren einige Fenster farbig verglast.10

Innen bot eine Frauenempore im Obergeschoss 45 Plätze, im Erdgeschoss fanden 64 Männer Platz. Der wahrscheinlich im Osten gelegene heilige Schrein sowie das davor aufgestellte Vorlesepult waren erhöht. Über dem Betsaal schloss ein mit goldenen Sternen vor blauem Hintergrund bemaltes (Tonnen-?)Gewölbe den Raum ab. Die Synagogengemeinde besaß ein Harmonium. Eine erste dokumentierte Renovierung des Innenraumes erfolgte 187911; um 1912 erhielt die Synagoge Stromanschluss. Im Vorfeld des aufwendig begangenen 100-jährigen Jubiläums, Mitte September 1929, wurde eine umfangreiche Renovierung und Sanierung der Synagoge innen und außen durchgeführt. Der erste Vorsitzende der Synagogengemeinde war damals Levi Wetzstein, dessen Urgroßvater einer der Initiatoren zum Neubau des Gotteshauses gewesen war.12

Während der Pogromnacht am 10. November 1938 wurde die Synagoge im Innern demoliert, Mobiliar, Thorarollen, Thoraschrein und andere Gegenstände wurde vor dem alten Treiser Rathaus von SA- Leuten und HJ verbrannt.13 1939 ging das Haus in den Besitz eines Nichtjuden über. Bis in die 1950er Jahre wurde es als Scheune und Abstellraum benutzt. Erst dann ließ der Eigentümer das Gebäude abreißen und an seiner Stelle den Anbau an seine bereits bestehende Scheune errichten. Eine kleine Gedenktafel an diesem Anbau erinnert an das ehemalige jüdische Gotteshaus.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Die Lage einer Mikwe ist nicht eindeutig gesichert. Möglicherweise befand sich das rituelle Tauchbad im Keller der Hauptstraße 90, heute Eselsgasse.14 Von ehemaligen Bewohnern wird über eine Art Brunnen bzw. ummauertes Areal berichtet, das über einige steinerne Stufen niedriger als die umgebenden Keller lag und das eine steinerne Platte abdeckte. Nur 50 Meter vom Haus entfernt fließt der schmale Fluss Lumda, was eine Fließwasser-Nutzung ermöglicht hätte.

Schule

Der Religionsunterricht wurde in dem Haus in der Hauptstraße 90 abgehalten. Das Gebäude war seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Besitz der jüdischen Gemeinde und diente u.a. auch als (Lehrer-)Wohnung.

Cemetery

Spätestens seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bestand der jüdische Friedhof in Treis. Der 1.680 Quadratmeter große Friedhof liegt etwa 350 Meter nordwestlich der Synagoge, knapp außerhalb des alten Ortskerns in der Straße „Auf dem Weinberg“. Der jüngste Grabstein wurde dem 1940 noch in Treis verstorbenen Karl Wolff gesetzt, der älteste sttammt von 1756.15

Treis an der Lumda, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Treis an der Lumda, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Mehrenberg, Herren von · Nassau, Grafen von · Schutzbar gen. Milchling, Herren von · Wetzstein II., Levi · Ziegelstein, Familie · Wetzstein, Levi · Wolff, Karl

Places

Allendorf an der Lumda · Frankfurt am Main · Friedberg · Amerika · Gießen · Darmstadt

Sachbegriffe Geschichte

Hessen-Kassel, Landgrafschaft · Hessen, Großherzogtum · Schutzjuden · Antisemitismus · Reichstagswahlen · Theresienstadt, Ghetto · Konzentrationslager · Pogromnacht · SA · HJ

Sachbegriffe Ausstattung

Vorlesepulte · Harmonien · Thorarollen · Thoraschreine

Sachbegriffe Architektur

Fachwerk · Davidsterne · Satteldächer · Gurtgesimse · Rähme · Werksteinmauern · Zäune · Rechteckfenster · Oberlichter · Frauenemporen · Tonnengewölbe · Gewölbe

Fußnoten
  1. Hess, Juden, S. 4. Treiser Juden sollen 1595 zu Sonderzahlungen der Türkensteuer herangezogen werden.
  2. Hess, Juden, S. 4
  3. Hess, Juden, S. 5
  4. Hess, Juden, S. 7
  5. Hess, Juden, S. 22 f.
  6. Hess, Juden, S. 25
  7. Ortsartikel Treis an der Lumda auf Alemannia Judaica (s. Weblink). Spätestens 1942 war die Auflösung formell erfolgt.
  8. Hess, Juden, S. 48 ff.
  9. Die Beschreibung des Gebäudes bezieht sich auf das Foto von 1929 mit einem Teil der Synagoge als Hintergrund, das die einzig bisher bekannte Quelle dazu ist.
  10. Hess, S. 34
  11. Hess, S. 34
  12. Hess, S. 26
  13. Hess, S. 35
  14. Hess, S. 37
  15. Vgl. Treis an der Lumda, Jüdischer Friedhof in LAGIS (s. Link)
Recommended Citation
„Treis an der Lumda (Landkreis Gießen)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/509> (Stand: 12.7.2023)