Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Rodheim v.d.Höhe Karten-Symbol

Gemeinde Rosbach v. d. Höhe, Wetteraukreis — Von Karsten Brunk
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

um 1640

Location

61191 Rosbach vor der Höhe, Stadtteil Rodheim, Wethgasse 14 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen (Gießen, orthodox)

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1938

Art des Verlusts

Zerstörung

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Im ehemals hanauischen Flecken Rodheim vor der Höhe hat sich etwa 1640 der erste jüdische Bewohner niedergelassen - einen sicheren Nachweis gibt es seit 1642.1 Im gleichen Jahr war die Ortsherrschaft an die Grafen von Hanau-Lichtenberg übergegangen, die die judenfreundliche Politik ihrer Vorgänger fortführten. Ihr rechtlicher Status war durch die 1603 vom Hanauer Grafen erlassene Judenstättigkeit geregelt worden. Bald nach Übergang der Grafschaft Hanau an die Landgrafschaft Hessen-Kassel im Jahr 1736 wurde unter Landgraf Wilhelm VIII., der als tolerant und aufgeklärt gegenüber den Juden galt, eine neue Hanauische Juden-Capitulation erlassen. Darin wurden in 36 Paragraphen die Pflichten und Rechte der Juden und ihr Verhältnis zur christlichen Einwohnerschaft geregelt.

Mindestens bis ins 18. Jahrhundert können die Wurzeln der Stammväter der besonders lange in Rodheim lebenden jüdischen Familienverbände zurückverfolgt werden,2 als etwa 15 bis 30 jüdische Einwohner in Rodheim lebten. Sie trugen ab dem 19. Jahrhundert größtenteils die Familiennamen Borngässer, Cassel, Oppenheimer, Stern und Strauß, sowie durch spätere Einheirat noch Mayer und Levi. Bis 1828 bewegte sich die Personenzahl mit 28 jüdischen Bewohnern noch auf dem Niveau des 18. Jahrhunderts. Im Jahr der Einweihung der Synagoge im Jahr 1863 hatte Rodheim dann 45 jüdische Einwohner, was etwa acht bis neun Familien entsprach. Ihren Höchststand erreichte ihre Anzahl um 1885 mit 91 Personen.3 Um 1900 wird eine zunächst allmähliche, nach dem 1. Weltkrieg beschleunigte Abwanderung in städtische Kommunen mit jüdischen Gemeinden erkennbar. Ab Mitte der 1920er Jahre stagnierte die Zahl der jüdischen Mitbürger bis zum Januar 1933 zwischen 50 und 60 Personen, die 1933 in 12 hier ansässigen Familien lebten. Bis April 1936 ging die Personenzahl auf knapp 50 zurück. Danach reduzierte sich die Zahl rapide auf etwa 27 jüdische Einwohner im Februar 1937. Zum Zeitpunkt des Novemberpogroms 1938 waren noch mindestens zehn Juden in Rodheim gemeldet.4 Spätestens bis zum Mai 1939 hatten sämtliche jüdischen Einwohner Rodheim verlassen. Lediglich eine Frau, die mit einem Nichtjuden verheiratet war, konnte in Rodheim bleiben und hat hier den Holocaust überlebt.

Zum Zeitpunkt der Synagogeneinweihung im Jahr 1863 war Rodheim auch zentraler Synagogenort für die zum Teil wesentlich kleineren Israelitischen Gemeinden in den Nachbarorten Petterweil (15 Personen), Holzhausen (heute Burgholzhausen, vier Personen) und Ober-Rosbach (25 Personen) geworden. Später kamen die Juden aus Köppern dazu und in den 1920er Jahren schloss sich noch die zusammengeschrumpfte jüdische Gemeinde von Ober-Erlenbach an, zu der auch Juden aus Ober- und Niedereschbach gehörten.5

Von den ab der Mitte der 1920er Jahre noch in Rodheim lebenden jüdischen Mitbewohnern sind mindestens 22 Personen Opfer des Holocaust geworden. Knapp 30 Personen konnten dieses Schicksal zwischen 1936 und 1938/39 durch Auswanderung bzw. Flucht ins außereuropäische Ausland umgehen. Die wichtigsten Zufluchtsregionen waren das südliche Afrika und die USA, vereinzelt auch Südamerika (Argentinien und Uruguay) und Palästina.6

Unter den in Rodheim geborenen Juden hat Hermann Levi (1888-1942) eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Nach seiner Ausbildung und Tätigkeit als Religionslehrer und Kantor war er seit dem Sommer 1927 an der Universität Köln immatrikuliert und hat 1933 sein Studium mit einer gedruckt vorliegenden Dissertation abgeschlossen. Titel der Dissertationsschrift: „Lehrbuch und Jugendbuch im jüdischen Erziehungswesen des 19. Jahrhunderts in Deutschland - Versuch einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung nach Inhalt und Methode“. Dr. Hermann Levi und seine Frau Irma, die zuletzt in Köln wohnhaft waren, sind am 22. Oktober 1941 deportiert worden. Dr. Levi kam am 28. September 1942 im Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) zu Tode.

Betsaal / Synagoge

Bereits vor der Errichtung der Rodheimer Synagoge sind religiöse Zusammenkünfte der jüdischen Gemeinde in einem Privathaus in der Hauptstraße belegt.7 Das Haus befand sich auf dem Gelände des heutigen Anwesens Hauptstraße 15/178 und ist 1933/34 abgerissen worden. Es gehörte spätestens seit 1810 der Familie Jacob Liebmann Strauß, zuletzt dessen zweitgeborenem Sohn Isaak Strauß. Über die Ausstattung der wahrscheinlich als Betraum genutzten Räumlichkeit im oberen Geschoss des Hauses ist nichts bekannt. Gegen 1830 ist auch die Bildung einer jüdischen Kultusgemeinde nachzuweisen, die möglicherweise schon damals erste Anstrengungen zum Bau einer Synagoge machte.

Ab etwa 1850 ging dann von dem 1818 in Rodheim geborenen jüdischen Metzgermeister Abraham Cassel (Kassel) die „energisch in Angriff genommene“ Initiative zur Planung und zum Bau der Rodheimer Synagoge aus.9 Abraham Cassel wird 1862 als Vorsteher der hiesigen Israelitischen Religionsgemeinde genannt. Nach „der Überwindung mancher Schwierigkeiten“ konnte 1862 auf dem Gelände einer für 500 fl. (Gulden) angekauften und vollständig abgerissenen Hofreite in der Wethgasse (heute Bestandteil des Anwesens Wethgasse 14) mit dem Bau der Synagoge begonnen werden. Der Standort befand sich unmittelbar neben einem seit Jahrhunderten genutzten öffentlichen Wasserbecken (der Weth oder Weed) mit Frischwasserzufuhr aus dem Hamstergraben. In späteren, um 1890 angefertigten Plänen von der Synagoge finden sich allerdings keine Hinweise für die Ausstattung der Synagoge mit einem rituellen Tauchbad (Mikwe), obwohl die Existenz einer solchen vorausgesetzt werden muss.

Die Anfertigung des planerischen Entwurfs aus der Bauzeit, der leider nicht erhalten ist, und die Bauleitung lagen in den Händen des bekannten Büdinger Architekten Victor Melior (1820-1910), der zeitgleich mit dem Umbau des evangelischen Pfarrhauses befasst war. Bis zur Fertigstellung der Synagoge beliefen sich die Gesamtkosten auf 3.500 Gulden, die über aufgenommenes Kapital und Spenden aus dem Ausland aufgebracht worden waren. An der Beschaffung von Spenden war auch der bis 1860 in Rodheim tätige evangelische Pfarrvikar der 1. Pfarrstelle beteiligt. Die Einweihungsfeier für die Synagoge fand am 17. April 1863 unter „lebhafter Theilnahme“ und wohlwollender Beteiligung örtlicher Amtsträger statt.10 Die Predigt zur Eröffnung hielt der Provinzialrabbiner Dr. B. Levi aus Gießen, und Architekt Melior erhielt einen silbernen Pokal „als Zeichen dankbarer Anerkennung“.

Das Aussehen der Synagoge kann erst über zwei Planzeichnungen11 aus der Zeit um 1890 erschlossen werden, die im Zusammenhang mit der Errichtung einer Feuerungsanlage in der Synagoge entstanden sind. Der Plan des ausführenden Maurermeisters Wilhelm Becker12 aus Burgholzhausen (damals Holzhausen) besteht aus drei Teilen: einem Lageplan (Situationsplan), einem Grundriss (Grundplan) und einer Ansicht der „Giebel Facade“. Danach deckte das Gebäude eine Fläche von 7,50 Metern auf der Stirnseite mit der Fassade zur Wethgasse und einer Tiefe von 8,85 Metern ab, also eine Grundfläche von 66,37 Quadratmetern. Die Gebäudehöhe bis zur Firstspitze war 8,50 Meter. Eine etwa zeitgleich entstandene Rekonstruktionszeichnung aus der Hand eines A. Becker13 zeigt außer der Giebelfassade auch eine Ansicht der Südseite der Synagoge mit der Eingangspforte.

Genauere Informationen zur Innenausstattung14 sind nicht bekannt. Diesbezügliche Nachweise beschränken sich darauf, dass die Synagoge bestuhlt war, und auf einen Rechnungsbeleg für die „Reparatur der Thora“. Als einziges photographisches Dokument ist die Aufnahme einer Gedenktafel für die vier jüdischen Opfer des 1. Weltkrieges in der Synagoge erhalten. Die Tafel war von dem 1927/28 gegründeten Israelitischen Frauenverein gestiftet worden und wurde am 3. Juni 1928 im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes enthüllt.

Im Zuge des Novemberpogroms 1938, das in Rodheim am Nachmittag des 10. November stattfand,15 ist zunächst die Synagoge mit einer Axt aufgebrochen worden. Anschließend wurde die Inneneinrichtung zusammen mit aufgeschichtetem Stroh mit Benzin übergossen und angezündet. Des Weiteren waren danach die Wohnungen der jüdischen Einwohner geplündert worden, die Bewohner und zufällig anwesende Besucher wurden unter Arrest gestellt und zunächst im Rathausgebäude eingesperrt. Die Frauen und Kinder kamen später wieder frei. Die Männer wurden für einige Wochen ins KZ Buchenwald verschleppt. Sie kamen erst kurz nach Weihnachten 1938 wieder frei, nachdem sie einen Nachweis über ihre Teilnahme am 1. Weltkrieg erbracht hatten.

Bis zum April 1939 waren die Außenmauern der vollständig ausgebrannten Synagoge wegen Einsturzgefahr zum größten Teil niedergelegt worden.16 Heute befindet sich hier eine Garage, vor der ein Gedenkstein an das ehemalige jüdische Gotteshaus erinnert. Den jüdischen Opfern der NS-Gewaltherrschaft und des Novemberpogroms wird seit Jahrzehnten am Synagogengedenkstein alljährlich im Rahmen einer Gedenkveranstaltung gedacht.17

Weitere Einrichtungen

Schule

In der Zeit von 1883 bis 1908 ist die Existenz einer jüdischen Schule in Rodheim nachweisbar, und schon seit 1839 gab es eine Ausschreibung für die Stelle eines jüdischen Religionslehrers,18 der bis ins frühe 20. Jahrhundert zahlreiche weitere folgten. Mit der Stellenausschreibung war auch immer die Funktion des Vorbeters und Schächters (Schochet) verknüpft.19

Cemetery

Obwohl von herausragender religiöser Bedeutung, ist in Rodheim, dem Ort mit der größten Israelitischen Gemeinde, keine jüdische Begräbnisstätte nachweisbar. Spätestens 1830 ist aber belegt, dass der Rodheimer Judengemeinde ein Gelände in der nächstgelegenen Nachbargemeinde Holzhausen (heute Burgholzhausen) als Ruhestätte diente.20 Das Gelände an der „Alten Burg“ ist 1842 und 1882/83 durch Landzukäufe erweitert worden und diente dann vorwiegend den Rodheimer und Burgholzhäuser Mitgliedern der Synagogengemeinschaft als Grabstätte. Für die vorübergehend zur Synagogengemeinschaft gehörenden Juden aus Ober-Rosbach gab es ab 1883 für wenige Jahrzehnte einen eigenen Friedhof im Norden von Ober-Rosbach am Kirschenberg.21 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nach der Wende zum 20. Jahrhundert gehörten sie zur großen jüdischen Gemeinde im näher gelegenen Friedberg.22

Der Friedhof in Burgholzhausen ist in der Nacht zum 10. November 1938 geschändet und verwüstet worden. Erhalten geblieben sind mindestens 55 Grabsteine, die nach dem Krieg in der Form eines Karrees wieder aufgestellt worden sind. Ein Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof erinnert heute an die übrigen Grabstätten, die nicht mehr identifiziert werden konnten.

Burgholzhausen, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Indices

Persons

Hanau-Lichtenberg, Grafen von · Wilhelm VIII., Landgraf · Borngässer, Familie · Cassel, Familie · Oppenheimer, Familie · Stern, Familie · Strauß, Familie · Mayer, Familie · Levi, Familie · Levi, Hermann · Levi, Irma · Strauß, Jacob Liebmann · Strauß, Isaak · Cassel, Abraham · Kassel, Abraham · Melior, Victor · Levi, Benedikt Samuel · Becker, Wilhelm

Places

Petterweil · Holzhausen · Burgholzhausen · Ober-Rosbach · Köppern · Ober-Erlenbach · Ober-Eschbach · Niedereschbach · Afrika · Südafrika · USA · Südamerika · Argentinien · Uruguay · Palästina

Sachbegriffe Geschichte

Judenstättigkeit · Hanauische Juden-Capitulation · Erster Weltkrieg · Holocaust · Kulmhof, Vernichtungslager · Kulmhof, Vernichtungslager · Rodheim, Israelitischer Frauenverein · Novemberpogrome · Buchenwald, Konzentrationslager

Sachbegriffe Ausstattung

Gedenktafeln

Fußnoten
  1. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 8 ff.
  2. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 17 ff.; Fischer, Jüdisches Familienbuch, S. 270 ff.; Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, S. 110 f.
  3. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 76
  4. Roscher, Wetteraugemeinden, S. 112 ff.: Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, S. 84
  5. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 76, 93
  6. Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, S. 88
  7. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 78 f.
  8. Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, Tab. 1 u. Abb. 4
  9. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 79 f.
  10. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 88 u. 118 f.
  11. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, Abb. 6, 6 a-c, Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, Abb. 3 a, 3 b
  12. StadtA Rosbach v.d.H., Grundriss und Giebelfassade der Synagoge zu Rodheim v.d.H.
  13. Rekonstrutionszeichnung der Synagoge zu Rodheim v.d.H. in: HStAD H 13 Gießen, 530/3
  14. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 86 f.
  15. Roscher, Wetteraugemeinden, S. 112 f.; Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, S. 84 f.
  16. Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, S. 85.
  17. Brunk, Jüdische Familien aus Rodheim, S. 100 f.
  18. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 91
  19. Vor allem Anzeigen in verschiedenen Ausgaben der Zeitschrift „Der Israelit“
  20. Dahmen, Jüdisches Leben in Rodheim, S. 94; Fischer, Friedhof Holzhausen, S. 241 ff.
  21. Roscher, Wetteraugemeinden, S. 92
  22. Roscher, Wetteraugemeinden, S. 90
Recommended Citation
„Rodheim v.d.Höhe (Wetteraukreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/267> (Stand: 23.7.2022)