Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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5418 Gießen
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Reiskirchen Karten-Symbol

Gemeinde Reiskirchen, Landkreis Gießen — Von Susanne Gerschlauer
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

18. Jahrhundert

Location

35447 Reiskirchen, Schulgasse 9 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen

religiöse Ausrichtung

liberal

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1938

Art des Verlusts

Zerstörung

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Reiskirchen gehörte zu dem Herrschaftsbereich der reichsunmittelbaren Herren von Buseck und von Trohe. Obwohl Reiskirchen 1806 in die hessen-darmstädtische Verwaltung überging, übten die Herren von Buseck bis 1827 ihre Patrimonialrechte aus.1

Erste Hinweise auf Juden in Reiskirchen finden sich im 18. Jahrhundert.2 Um 1828 lebten 24 Juden in Reiskirchen, 1843 waren es 20 erwachsene Personen.3 1871 hatte sich der Anteil jüdischer Einwohner auf 39 Personen erhöht4, 1905 lebten 35 Juden in der Gemeinde; dies entspricht einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von etwa 3 Prozent.5 Ihren Lebensunterhalt verdienten die jüdischen Reiskirchener durch Vieh-, Ellenwaren- und Wollhandel. Es gab drei jüdische Ladenbesitzer, die Manufakturwaren verkauften.6

Die Reiskirchener Juden waren anfangs Mitglieder in der jüdischen Gemeinde von Großen-Buseck, doch kam es spätestens seit den 1840er Jahren zu erheblichen Spannungen zwischen den beiden Gruppen. In der Folge beantragten die Reiskirchener Juden die Neugründung einer eigenen Gemeinde und erhielten vom Gießener Kreisamt dafür 1863 die Genehmigung.7 Noch im selben Jahr gründete sich die eigenständige jüdische Gemeinde Reiskirchen, zu der auch die in Ettingshausen lebenden Juden gehörten.8 Im Jahr 1844 und 1863 besetzte Moses Löwenberg die Stelle als Vorsteher der jüdischen Gemeinde.9 Der letzte Rabbiner der Gemeinde war in den 1930er Jahren Abraham Edelmuth10; der letzte Vorsitzende Levi Selig.11 Die Synagogengemeinde Reiskirchen wurde 1942 offiziell aufgelöst.

Im Verlauf der Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 zog die Mehrheit der jüdischen Reiskirchener aus dem Ort weg, einige innerhalb Deutschlands, wenige ins Ausland. Die noch in Reiskirchen verbliebenen fünf Personen wurden 1942 von den Nationalsozialisten verhaftet, in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet.12

Betsaal / Synagoge

Der älteste belegte Gottesdienstraum befand sich vermutlich in der heutigen Oberdorfstraße 17 (ehem. „im Lüchen“). Das Untergeschoss des zweigeschossigen Gebäudes war an eine jüdische Familie vermietet, der Betraum lag im Obergeschoss.13 Es ist davon auszugehen, dass sich das Haus mit Betraum optisch nicht von der umgebenden Wohnbebauung abhob.

1886 ließ die Synagogengemeinde in der Schulgasse 9 eine ehemalige Scheune in eine Synagoge umbauen. Das Haus lag dem Schulgelände gegenüber, direkt angrenzend an die vorbeifließende Wieseck. Die Synagoge wies Merkmale einer besonderen Nutzung auf, wie auffällige Fensterformen und exponierten Haupteingangsbereich.

Einige Jahre nach dem Umbau zur Synagoge plante die jüdische Gemeinde den Abriss des bisher genutzten Gebäudes und einen Neubau an derselben Stelle. Pläne aus dem Jahr 1912 zeigen das Vorhaben mit einem im Osten dreieckig verlaufenden Abschluss im Grundriss. Offenbar jedoch wurde der Neubauplan verworfen, denn noch im selben Jahr beantragte die Synagogengemeinde einen Anbau an ihre bereits bestehende Synagoge, dem zeitnah durch das Gießener Kreisamt stattgegeben wurde. Allerdings wurde auch dieser Plan nicht umgesetzt. Inwieweit die im Zusammenhang mit dem Neubauprojekt auf den Plänen dargestellte Synagoge mit dem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert genutzten Gotteshaus identisch ist, lässt sich nicht sagen.14

Die Synagoge, die auf den Plänen von 1912 für einen Anbau an ein bestehendes Gebäude gezeigt wird, war ein zweigeschossiges Massivgebäude mit Satteldach über recheckigem Grundriss mit dreieckigem Abschluss im Osten. Vier Fensterachsen an den Langseiten im Unter- und Obergeschoss, im Obergeschoss vermutlich hochrechteckige Kreuzstockfenster, boten dem Innenraum Licht. Im Inneren lag im Westen der Haupteingang und achsial gegenüber die Thoranische mit Schrein und der davor gestellten Bima, um eine Stufe erhöht. Oberhalb des Schreins war ein Zwillingsfenster (Blendfenster?) in einer nach oben abgerundeten Nische eingebaut, das die West-Ost-Achse betonte und den mit barockisierendem Zierart versehenen Schrein optisch abschloss. Die dreiseitig umlaufende Frauenempore war durch zwei Stützen im Norden und Süden vor der Westwand unterfangen. Ohne den geplanten Neubau, der neben seiner Funktion als Windfang auch zur Erschließung der Empore über eine zweiläufige Treppe mit Wendepodest diente, könnte die Empore eventuell von einer zuvor angebauten separaten Treppe her erschlossen gewesen sein. Dafür finden sich jedoch auf den Plänen keine Anhaltspunkte. Über die weitere Innenausstattung kann aufgrund der Planunterlagen keine Aussage getroffen werden. Über die Kosten der Neubaupläne sind keine Hinweise überliefert.

Während des Pogroms im November 1938 wurde nicht nur die komplette Inneneinrichtung der Synagoge zerstört und verbrannt, sondern auch das Gebäude selbst. Reste der Mauern wurden später niedergelegt.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Das rituelle Tauchbad befand sich als separates Gebäude auf demselben Gelände, auf dem die jüngere Synagoge stand, direkt an der Wieseck.15

Cemetery

Die verstorbenen Juden aus Reiskirchen wurden auf dem jüdischen Friedhof Großen-Buseck beerdigt. Der jüngste lesbare Grabstein stammt aus dem Jahr 1939, der älteste von 1841.

Großen-Buseck, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Großen-Buseck, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

  • ALEXANDER, Katherine: Judenfamilien in Reiskirchen. In: Heimatbrief der Heimatgeschichtlichen Vereinigung Reiskirchen e.V., 2/2008, S. 3-8.
  • ALTARAS, Thea: Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?. Königstein im Taunus 2007.
  • Arnsberg, Paul: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang. Untergang. Neubeginn, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1971/1972, hier: Band 2, S. 219-220
  • KÖHLER, Gustav Ernst: Die Judengemeinde von Reiskirchen im Busecker Tal. Ein Beitrag zur Geschichte der hessischen Landjudenschaft. Reiskirchen 21996 (= Schriftenreihe der Heimatgeschichtlichen Vereinigung Reiskirchen e.V., Nr. 22).
  • RUPPIN, Arthur: Die Juden im Großherzogtum Hessen. Berlin 1909.

Illustration available

(in Bearbeitung)

Fußnoten
  1. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 219
  2. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 219; Köhler, Reiskirchen, S. 2
  3. Köhler, Reiskirchen, S. 21
  4. Ortsartikel Reiskirchen auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
  5. Ruppin, Juden, S. 73
  6. Alexander, Reiskirchen, S. 3-6; Köhler, Reiskirchen, S. 2
  7. Ruppin, Juden, S. 73
  8. Köhler, Reiskirchen, S. 25; Ruppin, Juden, S. 73. Die Ettingshäuser Juden besaßen spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis 1908 einen eigenen Betraum.
  9. Köhler, Reiskirchen, S. 25
  10. Alexander, Reiskirchen, S. 4
  11. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 219
  12. Köhler, Reiskirchen, S. 50. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 219 f. gibt die Zahl mit 11 an.
  13. Köhler, Reiskirchen, S. 16 f.
  14. GemA Reiskirchen, Baupläne von 1912
  15. Köhler, Reiskirchen, S. 39 ff.; Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 219
Recommended Citation
„Reiskirchen (Landkreis Gießen)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/177> (Stand: 5.9.2022)