Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Reichelsheim Karten-Symbol

Gemeinde Reichelsheim (Odenwald), Odenwaldkreis — Von Wolfgang Fritzsche
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1698

Location

64385 Reichelsheim, Darmstädter Straße 3 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Darmstadt II

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

nein

Jahr des Verlusts

ca. 1939

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Reichelsheim wurde urkundlich zum ersten Mal 1303 erwähnt, dürfte aber wesentlich älter sein. Es gehörte zum Herrschaftsbereich der Schenken und später Grafen von Erbach und gelangte 1803 an Hessen.

Erstmals wurde am Ende des Dreißigjährigen Krieges ein Jude in der Burg Reichenberg erwähnt. Unklar bleibt aber, ob es sich bereits um einen Reichelsheimer Einwohner handelte oder einen Schutzsuchenden aus der Region.

1698 ließen sich Mayer und Abraham samt ihrer Söhne Feist und Salomon sowie Moses, Löw und Meyer in Reichelsheim nieder Damit legten sie den Grundstein für eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden im Odenwald. Als formale Judenschaft wurde sie aber erst 1805 erstmals erwähnt.1

1740 wurde mit Wendel Salomon erstmals ein Judenschulmeister erwähnt, so dass davon auszugehen ist, dass schon Mitte des 18. Jahrhunderts eine Gemeinde existierte. Sie bestand Anfang des 19. Jahrhunderts aus 14 steuerpflichtigen Mitgliedern. Diese gaben sich 1809 die Familiennamen Joseph, Maier, Muhr, Loew, David, Loesermann, Reichelsheimer, Reichenberg und Samuel.2 Die Anzahl der jüdischen Einwohner wird für diese Zeit auf über 100 geschätzt, womit die Gemeinde in Reichelsheim neben denen in Michelstadt und Beerfelden zu den größten in der Grafschaft Erbach gehört haben dürfte.3 Verlässliche Zahlen sind erst für 1828 bekannt, als in Reichelsheim 1.240 Einwohner lebten, von denen 172 jüdischen Glaubens waren. 1852 waren es 1.506 Personen, davon 261 jüdischen Glaubens. Das entspricht 17,3 Prozent der Gesamteinwohnerschaft und stellt sowohl absolut als auch relativ den höchsten Stand dar.4 1872 zählte die Gemeinde 98 Männer, 119 Frauen und 43 schulpflichtige Kinder.5

Im 18. Jahrhundert lebten Juden überwiegend vom Vieh- und Pferdehandel, dem Verleihen von Geld und dem Handel mit Grundstücken und Häusern. Die Geschäfte wurden, sehr zum Missfallen der Herrschaft, oft an Sonn- und Feiertagen getätigt, was 1770 zum Erlass einer Sabbat-Ordnung für die Grafschaft Erbach führte. Darin wurde der Handel in den Judenhäusern an diesen Tagen verboten. Im 19. Jahrhundert wandelten sich die Berufe. Von den 44 Familienoberhäuptern lebten 29 vom Viehhandel, zwei vom Fruchthandel, die übrigen waren als Makler, Kaufleute oder Hausierer tätig. Es gab drei jüdische Metzgereien, und 1863 gründete Wilhelm Joseph eine Matzenbäckerei, die bis 1936 bestand.

Bereits im März 1848 kam es in Reichelsheim zu Ausschreitungen gegen Juden, in deren Folge einige den Ort verließen und erst später zurückkehrten.

Otto Böckel trat erstmals 1890 hier auf, 1893 ein weiteres Mal. 1892 wurde der lokale Viehmarkt auf den Samstag verlegt, um jüdischen Händlern die Teilnahme unmöglich zu machen. Diese Maßnahme wurde zwar schon 1894 wieder zurück genommen, in diesem Jahr fand aber ein großes antisemitisches Fest statt.

1932 erzielt die NSDAP mit 56 Prozent der Stimmen ein weit über dem hessischen Schnitt liegendes Ergebnis. Bereits ein Jahr später setzte sie sich für den Boykott jüdischer Geschäfte ein. 1935 drohte die Gemeinde Empfängern von Kleinrenten und anderer kommunaler Unterstützungen mit Entzug ihrer Leistungen, wenn sie weiter bei Juden einkauften.6 Nach der Schändung der Synagoge wurden auch Geschäfte und Wohnungen überfallen, Einrichtungen zerstört und Menschen misshandelt.

Nach 1933 gab es 40 jüdische Familien im Ort. Bis Mai 1939 sank die Zahl vor allem durch Auswanderung auf 61 jüdische Einwohner, 1942 waren es noch 20. Von ihnen wurden zwölf nach Auschwitz deportiert, die übrigen zunächst nach Darmstadt. Über ihren Verbleib ist wohl nichts bekannt.7

Seit dem 13. November 1988 befindet sich an der Mauer zur Michaelskirche eine Gedenktafel für die Opfer der Gewaltherrschaft. Bis Juni 2011 wurden 42 Stolpersteine verlegt.

Betsaal / Synagoge

Bislang ist unbekannt, wo die noch junge Gemeinde im 18. Jahrhundert Gottesdienst feierte. 1812 beantragte sie den Bau einer neuen Synagoge in der späteren Darmstädter Straße 3, die 1817 durch den Michelstädter Rabbiner Seckel Löb Wormser eingeweiht wurde. 1904 wurde sie saniert und dabei elektrisches Licht und eine Heizung eingebaut.

Bereit 1922 wurden Scheiben eingeworfen.

Zu Beginn der 1930er Jahre verfügte die Synagoge mit Empore über 84 Sitzplätze mit Pulten für Männer, 56 für Frauen, eine Garderobe mit 140 Einrichtungen, einen Thoraschrein mit Altaraufbau und kunstvoller Ornamentierung, elf Thorarollen, einen Almemor mit Vorleserpult und Wickelbank, ein Vorbeterpult, eine gestiftete Gedenktafel aus Pergament, zwei Gedenktafeln aus Marmor, einen 100-flammigen vergoldeten Kronleuchter, vier Hängeleuchter, zwölf Seitenleuchter, zwei Leuchter am Thoraschrein, zwei Teppiche, 50 Meter guten Läufer, einen Schrank für die Kultgegenstände, eine Uhr und einen Ofen. Darüber hinaus bestanden in dem Gebäude ein Schulzimmer und im Obergeschoss eine kleine Wohnung für den Lehrer. Die Synagoge wurde auch von den Gläubigen aus Pfaffen-Beerfurth besucht.8

Am 10. November 1938 überfielen Mitglieder der Bensheimer SA die Synagoge, warfen die Thorarollen auf die Straße und verbrannten sie. Auch die Inneneinrichtung wurde verbrannt und zerstört, einige Gegenstände wohl auch von örtlichen Nationalsozialisten gestohlen.9 Unter der Leitung des Erbprinzen zu Erbach-Schönberg wurden jüdische Einwohner gezwungen, dem Treiben zuzuschauen und um das Feuer herumzutanzen.10

Zum 13. März 1939 erwarb die politische Gemeinde das Synagogengebäude für 2.000 Reichsmark, der Kaufpreis wurde jedoch bis 1942 nicht entrichtet. Wenig später ließ sie es abbrechen und an gleicher Stelle ein Verwaltungsgebäude errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg zahlte die Gemeinde im Zuge von Vergleichsverhandlungen 12.000 DM nach.11

Weitere Einrichtungen

Weitere Einrichtungen

Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Reichelsheim waren, wie die Mitglieder anderer Gemeinden auch, verpflichtet, notleidende Glaubensbrüder, sogenannte Betteljuden, zu unterstützen. Dies geschah zumeist, indem ihnen Unterkunft und Verpflegung gewährt wurde. Der Gemeindevorstand verfügte über sogenannte Billette oder Pletten, die sich die Durchreisenden abholen konnten. 1808 versammelte sich die Gemeinde unter der Leitung des Michelstädter Rabbiners Seckel Löb Wormser und legte nach der Vermögenslage fest, wer an welchen Tagen wie viele solche Billette zu gewähren hatte. Weil ihr Vermögen jeweils 2.000 Gulden überstieg, hatten die Brüder Feist und Salomon Joseph jährlich jeder 14 Billette für die Wochentage und sieben solcher Berechtigungsscheine für die Feiertage zur Verfügung zu stellen.12 Dabei stifteten sie den Durchreisenden Abendessen, Übernachtung, Frühstück sowie einen Zehrpfennig. Tatsächlich wurden nicht nur die im Amte ansässigen armen Juden, sondern vor allem aus Baden kommende Betteljuden unterstützt, was die Gemeindemitglieder an den Rand ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten brachte und die Gemeinde letztlich überforderte.

Am Haus des Moses Maier in der Beerfurther Straße 5 bestand bis 1964 eine Laubhütte. Sie verschwand mit Abbruch des Hauses.13

Mikwe

Es ist unbekannt, seit wann und wo genau eine Mikwe bestand. Einem Bericht des Regierungsamtes in Erbach vom 12. August 1827 ist zu entnehmen, die „Judenschaft zu Reichelsheim hat an der Eberbach ein Gebäude zu einem Baad aufgeführt“.14 Abermals ist unbekannt, ob und wie lange dieses genutzt wurde.

1845/46 kam es dann zum Bau einer den aktuellen Vorschriften entsprechenden Mikwe in der späteren Reichenberger Straße 5. Das einstöckige Gebäude mit Walmdach wurde später abgerissen.

Schule

1740 wurde mit Wendel Salomon erstmals ein jüdischer Lehrer in Reichenbach genannt. Seit 1824/25 bestand eine jüdische Elementarschule im Ort, in der im Jahr 1835 35 Kinder unterrichtet wurden.15 Nach Erlass der hessischen Schulordnung wurde die Einrichtung 1850 aufgelöst und die Kinder besuchten die christlichen Schulen.

Cemetery

Bis 1857 bestatte die Gemeinde ihre Verstorbenen auf dem Friedhof in Michelstadt. 1856 erwarb die Reichelsheimer Bruderschaft ein Grundstück An der Ruh und richtete darauf einen eigenen Friedhof ein. War dieser zunächst ausschließlich für Verstorbene aus Reichelsheim und Fränkisch-Crumbach bestimmt, trat 1860 auch Pfaffen-Beerfurth dem Friedhofsverband bei. Seit 1906 war die jüdische Gemeinde Reichelsheim Eigentümerin des Friedhofs, der noch 1929/30 erweitert wurde. Bereits ein Jahr später, 1931, wurde erstmals auch der Friedhof geschändet, 1934 und 1937 abermals. Die letzte Bestattung erfolgte 1940. Rund 165 Gräber sind heute dort vorhanden.

Michelstadt, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Reichelsheim (Odenwald), Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Michelstadt, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Erbach, Schenken von · Erbach,Grafen von · Mayer · Abraham · Feist · Salomon · Moses · Löw · Meyer · Wendel Salomon · Joseph, Familie · Maier, Familie · Muhr, Familie · Loew, Familie · David, Familie · Loesermann, Familie · Reichelsheimer, Familie · Reichenberg, Familie · Samuel, Familie · Joseph, Wilhelm · Böckel, Otto · Wormser, Seckel Löb · Erbach-Schönberg, Erbprinz zu · Joseph, Salomon · Joseph, Feist · Maier, Moses

Places

Michelstadt · Beerfelden · Pfaffen-Beerfurth · Bensheim · Fränkisch-Crumbach

Sachbegriffe Geschichte

Dreißigjähriger Krieg · Stolpersteine · Betteljuden · Laubhütten

Sachbegriffe Ausstattung

Gedenktafeln · Licht, elektrisches · Heizungen · Pulte · Garderoben · Thoraschreine · Altaraufbauten · Thorarollen · Almemore · Vorlesepulte · Wickelbänke · Vorbeterpulte · Kronleuchter · Hängeleuchter · Seitenleuchter · Leuchter · Thoraschreine · Teppiche · Läufer · Schränke · Uhren · Öfen

Sachbegriffe Architektur

Emporen · Ornamente · Walmdächer

Fußnoten
  1. Battenberg, 2003, S. 12.
  2. HStAD G 15 Erbach, L 222
  3. Battenberg, 2003, S. 13.
  4. Grünewald, 2003, S. 47.
  5. Lode, 1986, S. 35.
  6. Kaufmann, masch. Man.
  7. Lode, 1986, S. 36.
  8. HHStAW 503, 7382.
  9. HHStAW 518, 1368.
  10. Grünewald, 2003, S. 131.
  11. HHStAW 518, 1368.
  12. Battenberg, 2003, S. 18.
  13. Teubner, 1989, S. 36.
  14. Grünewald, 2003, S. 67.
  15. Lode, 1986, S. 34.
Recommended Citation
„Reichelsheim (Odenwaldkreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/106> (Stand: 23.7.2022)