Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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5219 Amöneburg
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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 71. Amöneburg
  • Vorschaubild

Mardorf Karten-Symbol

Gemeinde Amöneburg, Landkreis Marburg-Biedenkopf — Von Susanne Gerschlauer
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1630

Location

35287 Amöneburg, Ortsteil Mardorf, Marburger Straße 31 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Die Gerichtsherrschaft über Mardorf lag seit dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts bis zur Säkularisation 1802/03 in den Händen der Mainzer Erzbischöfe, die hier zwei Höfe besaßen. Nach 1803 gingen Ort und Gerichtsbarkeit an das Kurfürstentum Hessen-Kassel über. Hauptgrundeigner war etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts der besitzreiche Deutsche Orden, der in Mardorf sieben Höfe besaß.

Die erste Nennung eines Juden stammt aus dem Jahr 1630; weitere folgen im Zusammenhang mit Schutzgeldzahlungen.1 1806 lebten sechs, 1828 zwölf jüdische Familien in Mardorf. 1905 waren es 44.2 Gemeinsam mit den Juden aus Rauischholzhausen, Roßdorf und Wittelsberg bildeten die Mardorfer Juden vermutlich seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine Synagogengemeinde, deren Betraum bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts für alle gemeinsam in Mardorf bestand.3 Nach 1850 bildete Rauischholzhausen mit Wittelsberg eine eigene Synagogengemeinde mit Gottesdienstraum in Rauischholzhausen.4 Vorsitzender der Synagogengemeinde Mardorf war um 1840 Simon Kaiser.5 Die jüdische Gemeinde wurde formell mit der erzwungenen Enteignung jüdischen Gemeindebesitzes im Jahr 1940 aufgelöst. Ihr letzter Vorsitzender war Simon Kaiser II.6

Die Mehrheit der jüdischen Bewohner lebte vom Vieh- und Landproduktehandel sowie vom Handel mit Textilien und Kurzwaren. Einige christliche und jüdische Mardorfer wanderten um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Nordamerika aus, wovon sie sich eine Verbesserung des Lebensstandards erhofften.7 Die überwiegend bescheidenen Lebensverhältnisse der Mardorfer Juden spiegeln den relativ geringen Wohlstand der Synagogengemeinde.

1933 lebten noch sieben Familien in Mardorf. Von den insgesamt 24 Personen emigrierten einige in die USA, die Niederlande oder verzogen innerhalb Deutschlands.8 Die nach 1938 in Mardorf lebenden Juden wurden zwischen 1940 und 1942 verhaftet und, einige von Kassel aus, in Konzentrations- bzw. Vernichtungslager deportiert, in denen sie ermordet wurden.9

Betsaal / Synagoge

Um 1712 besaß die jüdische Gemeinde Mardorf einen eigenen Betraum, wie aus Schriftwechseln im Zusammenhang mit dem zu dieser Zeit stattfinden Wechsel der Gottesdienstbesuche der Amöneburger Juden von Kirchhain nach Mardorf hervorgeht. Der zeitlich nächste Beleg stammt aus dem Jahr 1743 und ist ein Gesuch David Baruchs, seinen Schwiegersohn in der „Schuhlen“ als Vize-Rabbiner anstellen zu lassen. Einen weiteren Hinweis auf die Nutzung eines Betraumes gibt ein Streit zwischen Mardorfer und Roßdorfer Jüdinnen im Mardorfer Betraum. Dieser Betraum soll sich in einem ansonsten für Wohnzwecke genutzten Haus der Straße „Am Breitenstein“ 22 im zweiten Stock befunden haben.10 Solange der Betraum dort bestand, diente entweder dieser Raum oder ein anderer im selben Gebäude den jüdischen Kindern für den Religionsunterricht. Eigentümer und Bewohner sollen bereits vor 1806 Simon Maas und Anton Preis gewesen sein. Durch bauliche Veränderungen, u.a. dem Einziehen einer Trennwand, um 1806, wurde das Innere des Hauses zweigeteilt. Inwieweit dieser Betraum mit dem bereits 1712 erwähnten und benutzten identisch war, ist nicht eindeutig belegbar, kann jedoch angenommen werden: Schriftliche Belege aus dem Jahr 1863, die sich auf 1810 beziehen, weisen den Betraum im Haus des Simon Maas als seit „urdenklichen Zeiten“ in Benutzung aus.11 Um 1839 wechselte der Gottesdienstort vorübergehend in das Privathaus des Falk Lion; Gründe für den Wechsel sind nicht bekannt. Im selben Haus bestand um 1825 eine Mikwe.12 Schon 1851 wurde der Gottesdienst wieder im Haus Am Breitenstein 22 abgehalten, bis die neuen Räumlichkeiten für einen größeren Betraum in der Marburger Straße 31 gefunden waren.

Die jüngste bekannte Synagoge steht in der Marburger Straße 31, ehemals am Obertor 148. Das Gebäude wurde schon einige Jahre vor der feierlichen Einweihung 1869 als jüdischer Betraum genutzt.13 Vermutlich wurde der Gebäudeteil, in dem der Betraum lag, bereits im 18. Jahrhundert als Scheunenbereich eines Einhauses errichtet.14 Durch Um- und Anbauten in den folgenden Jahren wurde der schon bauzeitlich kaum augenfällige Bau zunehmend in den Hintergrund gerückt, so dass zu seiner Nutzungszeit als jüdischer Betraum von außen kaum Rückschlüsse auf den sakralen Charakter im Innern möglich waren.

Das zwei- bzw. dreigeschossige Fachwerkgebäude über geschosshohem steinernen Sockel besitzt ein Satteldach in Südwest-Nordost-Richtung, dessen westlicher Abschluss ein Walm bildet. Vermutlich war das Fachwerk Mitte des 19. Jahrhunderts mit der regional typischen Schieferverschindelung verkleidet; im 20. Jahrhundert wurden an der Nordtraufe an deren Stelle Asbestbetonplatten angebracht. Im Rückschluss auf die im baulichen Bestand um 1994 noch erhaltenen Fenster kann von einer regelmäßigen Durchfensterung der Traufseiten sowie des Westgiebels ausgegangen werden.15 Vermutlich waren auf der Ebene des Obergeschosses drei feststehende rundbogige Sprossenfenster mit Oberlicht in Fächersprossenform eingesetzt gewesen, achsial darüber, im zweiten Obergeschoss, segmentbogige Sprossenfenster. Einzelne verschiebbare Fensterchen in den Scheiben ließen individuelle Belüftung zu.16 Der Westgiebel wies möglicherweise in jedem Fachwerkgeschoss zwei Achsen mit Fenstern der gleichen Bauart wie im Norden und Süden des Hauses auf.

Nach Aussagen von Zeitzeugen aus dem Jahr 1994, befand sich der Hauptzugang für die Männer in der Südwand des Sockelgeschosses, die dahinter liegenden Räume wurden von zwei Fenstern belichtet.17 Die Frauen erschlossen den Raum über eine östlich außerhalb des Betraums liegende Treppe, die von der Hofseite aus durch eine oberhalb des Sockels liegende Tür erschlossen wurde und ins zweite Obergeschoss auf eine dreiseitig umlaufende Empore führte. Über den gleichen Weg gelangten auch die jüdischen Kinder in die Schulstube, die im östlich angrenzenden Gebäudeteil lag. Gleichzeitig diente er als Zugang in die ebenfalls östlich benachbarte Lehrerwohnung.

Das Innere des Betraumes hatte einen mit Sandsteinplatten ausgelegten Fußboden mit sternförmigem Muster. Der über zwei Stufen erhöht stehende Thoraschein befand sich vor der Ostwand. Durch aufwendige Bemalung der Ostwand mit geometrischen Formen und vielfältigen Farben wurde der Schrein umrahmt und besonders hervorgehoben. Reste dieser Bemalung waren während der bauhistorischen Untersuchung 1994 noch erkennbar.18 Neben der Ostwand waren auch die anderen Wände farbig angelegt. Die Emporenbrüstung bestand aus einer dunkelgrün angelegten Verbretterung mit längsrechteckigen Füllungen. Die Flachdecke des Betraumes war u.a. mit blauen und roten Kreisen mit zentral aufgetragenen fünfzackigen gelben Sternen bemalt. Zeitzeugen erinnern sich an Kronleuchter und hölzerne Ablagen für Gesangbücher.19

Ein seltener Fund konnte an der rechten Innenseite der Türbekleidung zur Frauenempore gemacht werden. Dort war die Haltevorrichtung für eine Mesusa angebracht, die sich über die Zeit der Nutzung hinaus erhalten hatte.20

Die Schändung und Zerstörung der Synagoge durch die Nationalsozialisten der Nachbarorte während der Pogromnacht des Jahres 1938 betraf vorwiegend die Innenausstattung und die Fenster. Durch die dichte Bebauung unterließ man Brandstiftung, um die Gefahr eines um sich greifenden Feuers zu vermeiden. Der Zwangsverkauf an den Grundstücksnachbarn um 1940 setzte der Synagogengemeinde auch formal ein Ende. Eine kleine Bronzetafel auf dem Hof des Eigentümers an der Südtraufe des Gebäudes erinnert seit 1990 an die ehemalige Nutzung.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Bekannt ist die Existenz eines rituellen Tauchbades im privaten Wohnhaus des Falk Lion um 1825.21

Schule

Bis zur Nutzung des neuen Betraums in der Marburger Straße 31 wurden die jüdischen Kinder aus Mardorf und Roßdorf im Haus der Familie Maas, Am Breitenstein 22, unterrichtet. Hier war auch der lange Jahre genutzte Betraum eingerichtet. Seit etwa 1870 erhielten die jüdischen Kinder aus Rauischholzhausen den Unterricht zusammen mit denen aus Wittelsberg in einem Raum in Rauischholzhausen.22 Schule und Lehrerwohnung lagen seit Bestehen des neuen Betraumes in der Marburger Straße 31 unter einem Dach mit diesem, nach Osten angrenzend, im Ostteil desselben Gebäudes. Über Ausstattung und Größe ist bisher nichts Näheres bekannt.

Cemetery

Die Mardorfer Juden begruben ihre Verstorbenen auf dem jüdischen Friedhof des ca. vier Kilometer westlich entfernt liegenden Rauischholzhausen.23 Der Friedhof diente außerdem den Juden aus Ebsdorf, Leidenhofen, Rauischholzhausen, Roßdorf und Wittelsberg als Begräbnisplatz. Der jüngste Grabstein wurde der 1954 verstorbenen Sara Mendel aus Rauischholzhausen gesetzt.24

Rauischholzhausen, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Indices

Persons

Mainz, Erzbischöfe · Kaiser, Simon · Kaiser II, Simon · David Baruch · Simon Maas · Anton Preis · Falk Lion · Heinemann, Israel

Places

Rauischholzhausen · Roßdorf · Wittelsberg · USA · Niederlande · Amöneburg · Kirchhain · Kassel · Ebsdorf · Leidenhofen

Sachbegriffe Geschichte

Hessen-Kassel, Kurfürstentum

Sachbegriffe Ausstattung

Thoraschreine · Kronleuchter · Ablagen · Mesusot · Gedenktafeln

Sachbegriffe Architektur

Fachwerkbauten · Sockel · Satteldächer · Walmdächer · Schieferverschindelungen · Asbestbetonplatten · Sprossenfenster · Oberlichter · Emporen · Sandsteinplatten · Wandbemalungen · Frauenemporen · Flachdecken

Fußnoten
  1. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 60; Schneider, Kirchhain, S. 280
  2. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 60; Schneider, Kirchhain, S. 283
  3. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 77 f.; Schneider, Kirchhain, S. 283
  4. Schneider, Kirchhain, S. 284
  5. Schneider, Kirchhain, S. 283
  6. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 60
  7. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 61
  8. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 61
  9. Gedenkstätte Yad Vashem (s. Weblink)
  10. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 78; Schneider, Kirchhain, S. 283
  11. Schneider, Kirchhain, S. 283
  12. Schneider, Kirchhain, S. 283
  13. Händler-Lachmann/Händler/Schütt, Purim, S. 21
  14. Vgl. Ursprungsnutzung des Betraumes in Amöneburg.
  15. Vgl. publizierte Bauhistorische Untersuchung bei Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 77–85
  16. Aufgrund fehlender entsprechender Quellenbelege und der erheblichen Umbaumaßnahmen kann nur spekuliert werden. Vgl. auch Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 79 ff.
  17. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 81
  18. In Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 83 ff., befindet sich eine detaillierte bauhistorische Beschreibung des Befundes.
  19. Schneider, Kirchhain, S 285 f.
  20. Ein gleicher Befund findet sich an der Synagoge Stadtallendorf.
  21. Schneider, Kirchhain, S. 283
  22. Schneider, Kirchhain, S. 283 f.
  23. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 62
  24. Vgl. Rauischholzhausen, Jüdischer Friedhof in LAGIS (s. Link)
Recommended Citation
„Mardorf (Landkreis Marburg-Biedenkopf)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/146> (Stand: 18.10.2023)