Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Hungen Karten-Symbol

Gemeinde Hungen, Landkreis Gießen — Von Susanne Gerschlauer
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1426

Location

35410 Hungen, Bitzenstraße 38 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Seit dem 15. Jahrhundert waren die Ortsherren Hungens die Grafen von Solms-Braunfels, deren Residenz in Hungen lag. Zuvor hatten die Grafen von Falkenstein die Ortsherrschaft, nach 1806 ging Hungen in die Verwaltung des Großherzogtums Hessen über.

Die erste urkundliche Erwähnung von in Hungen wohnenden Juden stammt aus dem Jahr 14261, weitere Nennungen stammen aus der Mitte des 15. und des 16. Jahrhunderts. Vermutlich wurde um 1700 eine jüdische Gemeinde in Hungen gegründet2, zu der auch die Juden von Inheiden, Langsdorf und Utphe zählten.3 Da die Langsdorfer Juden die Entfernung nach Hungen für zu groß erachteten, beantragten sie 1765 die Nutzung einer eigenen Synagoge und erhielten vier Jahre später die Genehmigung dafür.4 Um 1832 setzte sich der Vorstand der jüdischen Gemeinde Hungen aus den drei Mitgliedern Wolf Heß, Leopold Bamberger und Ruben Oppenheimer zusammen.5 Zu den letzten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Hungen gehörte Simon Wiesenfelder.6 Die jüdische Gemeinde besaß von 1839 bis 1900 vermutlich fünf Thorarollen, wobei unklar ist, ob alle gleichzeitig in Benutzung waren.7

1666 lebten in Hungen nachweislich 53 Juden, 1818 waren in 10 jüdischen Familien 62 Personen gemeldet, 1830, kurz vor dem Umzug in die neue Synagoge, waren es 75. Im selben Jahr lebten in Inheiden 13 und in Utphe neun Juden. 1903 hatte Hungen 104 jüdische Einwohner, 59 Männer und 45 Frauen.8 1933 waren es durch Migration aufgrund politischer und sozialer Bedingungen nur noch 63 Personen in 18 Familien.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Mehrheit der in Hungen lebenden Juden so verarmt, dass sie ihre Schulden über längere Zeit nicht begleichen konnten. Dieser Zustand hielt bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts an und mündete 1840 in der Gründung des „Vereins zur Verbesserung des Zustandes der Israeliten“, der auch von nichtjüdischen Hungenern unterstützt werden sollte.9 Da der Nutzen des Vereins nicht wie gewünscht spürbar war, gründete die jüdische Gemeinde 1890 den „Israelitischen Wohltätigkeitsverein Hungen“ mit dem Zweck, innerhalb der jüdischen Gemeinde Geld zu sammeln, um verarmten Juden in bestimmten Situationen personelle und finanzielle Unterstützung zu gewähren. Der Vorsitzende dieses Vereins war Adolf Löb. Die Mehrheit der Juden lebte im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Kaufleute (Textilien, Getreide), Händler (Vieh) sowie Handwerker (ein Bäcker, ein Sattler). Um 1935 wohnte ein jüdischer Arzt in Hungen.

1939 lebten nur noch 13 Juden im Ort. Einige von ihnen wurden von ortsansässigen Nationalsozialisten noch vor 1941 verhaftet und in Konzentrationslager deportiert. Bis auf eine Familie verzogen alle anderen jüdischen Hungener bis 1941 entweder innerhalb Deutschlands oder emigrierten nach Palästina und in die USA. Neun Personen wurden nach Theresienstadt deportiert, weitere in osteuropäische Konzentrationslager, und dort ermordet.

Betsaal / Synagoge

Eine Vorgängerin zur jüngsten Synagoge befand sich in der ehemaligen kleinen Schlossgasse (heute Saalgasse Nr. 3) in unmittelbarer Nähe zum Hungener Schloss und der Stadtmauer. Das vermutlich aus dem 17. Jahrhundert stammende Fachwerkgebäude wurde zugleich als Wohnhaus genutzt. Innere Aufteilung des Hauses und Größe des Betsaales sind nicht überliefert. Bereits 1673 beantragten die Hungener Juden die Neueinrichtung einer Synagoge, was von den Ortsherren jedoch nicht bewilligt wurde.10

Erst mehr als 150 Jahre später ermöglichte die Genehmigung eines weiteren Antrages der jüdischen Gemeinde die Planung zu der jüngsten Synagoge, deren Umsetzung 1829 in Angriff genommen werden konnte. Nach Erwerb einer kleinen Hofreite „Haus mit Scheune“11 (Bitzenstraße Nr. 38) eines nichtjüdischen Hungeners wurde mit den Umbauarbeiten begonnen. Der hohe finanzielle Aufwand konnte nur durch die Aufnahme von Krediten in Höhe von 6.250 Gulden bestritten werden12, wobei unter den Geldgebern auch zwei evangelische Geistliche aus Wohnbach und der Kreisrat Rautenbusch aus Nidda waren. Zudem unterstützte Graf Otto zu Solms-Laubach den Umbau.13 Am 3. Juni 1832 konnte die neue Synagoge feierlich eingeweiht werden.

Das über rechteckigem Grundriss gebaute, zweigeschossige verputzte Fachwerkgebäude lag wie die Vorgängersynagoge im ältesten Teil Hungens. Traufseitig zur Bitzenstraße im Westen, grenzte das Haus im Norden an das Nachbarhaus an, im Süden stand es zum Teil frei. Durch seine auffällige Befensterung hob es sich von der kleinbäuerlichen Wohnumgebung ab. Die Fenster waren als segmentbogige Sprossenfenster gebaut, deren Binnenstruktur in der Mitte übereinandergelegte, beinahe spitzbogige Formen zeigte, die einfachen gotischen Fenstern ähnelten. Im oberen Bereich deutete sich so ein rundbogiger Abschluss an. Diese aufwändige filigrane Gestaltung wertete die ansonsten weitgehend schmucklose Fassadengestaltung auf. In die Westtraufe waren im Erdgeschoss je zwei Fenster sowie zwei Eingangstüren, im Obergeschoss achsial darüber drei Fenster, ausgehend von Süden, eingesetzt. Im Südgiebel war in der Mittelachse in jedem Geschoss ein Fenster gleicher Gestaltung eingebaut.

Das Gebäude mit schiefergedecktem Walmdach wurde durch den am nördlichen Gebäudeende angelegten Haupteingang erschlossen. Dieser über einige Stufen erhöht gelegene Zugang diente offenbar den Männern. Die Frauen gelangten wahrscheinlich durch eine in der südlichen Hälfte der Westseite gelegene Tür zur Empore. Die innere Gestaltung ist nur teilweise bekannt. Mit Sicherheit gelangten die Frauen über eine innenliegende Treppe auf die Frauenempore, die 1861 26 Plätze bot. Für die Männer im Erdgeschoss standen 27 Plätze zur Verfügung.14 Im Laufe der Jahre wurden immer wieder Renovierungen vorgenommen, die erste 1863. Im Folgenden wurde 1885 eine Heizung (Ofen) eingebaut, 1899 fand eine „Generalrenovierung“ statt.15 Im Jahr 1895 schaffte die jüdische Gemeinde – abweichend vom orthodoxen Ritus – ein Harmonium für die Synagoge an. Zum 100jährigen Jubiläum im Jahr 1932 wurde ein Fest ausgerichtet.

Im November 1938 wurde die Synagoge innen völlig zerstört. Seit April 1939 war das Gebäude im Besitz der politischen Gemeinde Hungen.16 Heute dient das fast vollständig umgebaute Gebäude als Wohnhaus. Etwa an der Stelle, an der ehemals vermutlich der Fraueneingang lag, ist eine Erinnerungstafel an die jüdischen Hungener angebracht.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Vor der Neueinrichtung in der jüngsten Synagoge bestand eine ältere Mikwe, die 1826 als „neu“ bezeichnet wird. Eine weitere bzw. jüngere Mikwe lag im Keller des Synagogengebäudes in der Bitzenstraße. Von einem Vorraum aus gelangte man in ein Badezimmer mit Badegefäßen, Pumpe und Heizkessel. Eine Renovierung fand 1883 statt. 1901 wurde die Nutzung der Pumpe durch den Rabbiner Dr. Hirschfeld, Gießen, moniert, da die Nutzung gepumpten Wassers für den Betrieb in einer Mikwe nicht den rituellen Vorschriften entsprach. Offenbar wurde die Mikwe weiterhin genutzt, denn 1906 beschloss der Gemeindevorstand, den verfaulten hölzernen Fußboden zu sanieren.17

Schule

Ein Raum für Religionsunterricht war im Erdgeschoss der Synagoge eingerichtet. Hier oder im Betsaal konnten Gemeindeversammlungen abgehalten werden. Oberhalb des Schulraums befand sich ab 1890 ein Büro für den Gemeindevorstand.18

Cemetery

Bereits 1523 erteilte Graf Bernhard III. von Solms-Braunfels den Juden die Genehmigung zum Betrieb einer Begräbnisstätte, die sich damals „auf der Schütt“ nahe des Hungener Stadtkerns befand.19

Der noch heute vorhandene jüdische Friedhof liegt etwa 500 Meter außerhalb der Altstadt, Richtung Westen, heute zwischen Friedberger Straße und Eisenbahn. Über das Datum seiner Einrichtung ist nichts bekannt. Nach seiner Erweiterung im Jahr 1888 erstreckt er sich über eine Fläche von 3.177 Quadratmetern und diente auch den Juden aus Langsdorf, Bellersheim, Birklar, Inheiden, Utphe und Villingen als Begräbnisort.20

Der älteste Grabstein stammt aus dem Jahr 1808, der jüngste von 1946. Er ist für Jeremias Oppenheim, der mit seiner Frau Hedwig Oppenheim nach dreijähriger Inhaftierung im Konzentrationslager Theresienstadt nach Hungen zurückgekehrt war und dort kurz darauf verstarb.

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Grabstätten

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References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Solms-Braunfels, Grafen von · Falkenstein, Grafen von · Heß, Wolf · Bamberger, Leopold · Oppenheimer, Ruben · Wiesenfelder, Simon · Löb, Adolf · Solms-Laubach, Graf Otto zu · Rautenbusch, Kreisrat · Hirschfeld, Dr., Rabbiner · Solms-Braunfels, Graf Bernhard III. von · Oppenheim, Jeremias · Oppenheim, Hedwig

Places

Inheiden · Utphe · Langsdorf · Nidda · Wohnbach · Gießen · Birklar · Bellersheim · Villingen

Sachbegriffe Geschichte

Hessen, Großherzogtum · Theresienstadt, Ghetto

Sachbegriffe Ausstattung

Thorarollen · Harmonien · Heizungen · Öfen · Heizkessel · Pumpen · Badegefäße

Sachbegriffe Architektur

Fachwerkbauten · Segmentbögen · Sprossenfenster · Spitzbögen · Rundbögen · Walmdächer · Emporen · Frauenemporen

Fußnoten
  1. Eller, Hungen, Dokumente, [S. 2], sowie Prokosch, Hungen, S. 82
  2. Im heute zu Hungen zählenden Bellersheim bestand seit dem 19. Jahrhundert eine eigene Synagogengemeinde, deren Synagoge in Obbornhofen stand und zu der auch die in Wohnbach lebenden Juden zählten.
  3. Prokosch, Hungen, S. 84
  4. Prokosch, Hungen, S. 84
  5. Lutteropp, Hungen, S. 10
  6. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 407
  7. Prokosch, Hungen, S. 88
  8. Prokosch, Hungen, S. 83 f.
  9. Prokosch, Hungen, S. 82
  10. Prokosch, Hungen, S. 88
  11. Lutteropp, Hungen, S. 10
  12. Lutteropp, Hungen, S. 10
  13. Laubacher Juden, S. 21
  14. Prokosch, Hungen, S. 88. Arnsberg, Jüdische Gemeinden, S. 406, gibt 53 Männerplätze an, was durchaus möglich erscheint, da im Erdgeschoss vermutlich mehr Sitzplätze unterzubringen waren als 27 und die jüdische Gemeinde zur Bauzeit der Synagoge entsprechend viele Mitglieder mit entsprechendem Platzbedarf aufwies.
  15. Prokosch, Hungen, S. 88
  16. Prokosch, Hungen, S. 88
  17. Prokosch, Hungen, S. 90
  18. Prokosch, Hungen, S. 90
  19. A. 102. 3+4 / III. 488 d
  20. Prokosch, Hungen, 91 f.
Recommended Citation
„Hungen (Landkreis Gießen)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/114> (Stand: 29.11.2022)