Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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4825 Waldkappel
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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 34. Waldkappel

Harmuthsachsen Karten-Symbol

Gemeinde Waldkappel, Werra-Meißner-Kreis — Von Martin Arnold
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1665

Location

37284 Waldkappel, Ortsteil Harmuthsachsen, Bilsteinstraße 15 | → Lage anzeigen

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Harmuthsachsen liegt zwei Kilometer nordwestlich von Waldkappel im Tal der Wehre. Durch den Ort führte die Landstraße, die Kassel mit Eisenach bzw. Köln mit Leipzig verband. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts waren die Herren von Hundelshausen alleinige Besitzer des Dorfes.1 Wie die Landgrafen von Hessen-Kassel und andere Adelsgeschlechter im Werraland erkannten die Herren von Hundelshausen, dass man mit der Ansiedlung von Juden und dem Verkauf von sogenannten „Schutzbriefen“ zusätzliche Einnahmen erzielen konnte. Zum ersten Mal werden für das Jahr 1665 vier „Schutzjuden“ in Harmuthsachsen genannt.2 Die erste Bestattung auf dem alten jüdischen Friedhof in Harmuthsachsen erfolgte im Jahr 1690.3

Die jüdische Gemeinschaft in Harmuthsachsen wuchs bis zum Jahr 1730 auf neun Familien.4 Während im 18. Jahrhundert die Zahl der jüdischen Einwohner kaum anstieg, kam es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem starken Wachstum. Von 88 jüdischen Einwohnern im Jahr 1823 und 118 im Jahr 1835 stieg sie auf 130 im Jahr 1861. Dies entsprach 24,8 Prozent der Dorfbevölkerung. Eine zunehmende Emanzipation zeigt sich darin, dass einige in den Ortsvorstand gewählt wurden und andere politische Ehrenämter übernahmen.5 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die Zahl der Jüdinnen und Juden in Harmuthsachsen wieder stark rückläufig. Im Jahr 1895 gab es noch 78 jüdische Einwohner, 1933 waren es nur noch 30. Nicht wenige zogen vom Dorf in die Stadt. Andere wanderten aus nach Südafrika oder in die USA.

Die im Jahr 1933 noch verbliebenen jüdischen Personen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus zunehmend angefeindet und entrechtet. Wer auswandern konnte, nutzte die Gelegenheit. Im Jahr 1936 löste sich die jüdische Gemeinde Harmuthsachsen auf. Im Zusammenhang mit den deutschlandweiten Pogromen im November 1938 kam es auch in Harmuthsachsen zu Übergriffen.6 Die Grabsteine auf dem alten jüdischen Friedhof wurden umgeworfen. Die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Juden wurden aus dem Denkmal, das auf dem kommunalen Friedhof an sie erinnerte, herausgemeißelt. Insgesamt 34 Jüdinnen und Juden, die in Harmuthsachsen geboren waren oder länger dort lebten, wurden Opfer der Shoah bzw. des Holocaust.7

Betsaal / Synagoge

Eine Synagoge wird erstmals im Jahr 1814 erwähnt.8 Ihre Lage ist nicht bekannt. Sie scheint auch nicht ausreichend gewesen zu sein, denn im Jahr 1821 führte die Gemeinde eine „Schlachtsteuer“ ein, um die Kosten für den Bau einer neuen Synagoge aufzubringen. Von jedem Stück Großvieh, das ein Mitglied der Gemeinde schlachtete, musste das Gemeindeglied zwei Albus an den Schächter abführen, von jedem Stück Kleinvieh einen Albus.9 Am 16.12.1829 berichtete der Kreisrat aus Witzenhausen an die Regierung in Kassel, die jüdische Gemeinde in Harmuthsachsen habe „schon seit längerer Zeit die Absicht, eine eigene Synagoge nebst Wohnung für den Lehrer“ zu erbauen. Dazu habe sie ihm eine Planungsskizze und einen Kostenvoranschlag des Landbaumeisters Johann Friedrich Matthei (geb. 1790 in Rodenberg am Deister; verst. 26. April 1874 in Witzenhausen) eingereicht. Man habe auch schon von einem Einwohner Harmuthsachsens „eine Scheune, deren Holzwerk und Ziegel bei dem Bau der Synagoge benutzt werden können und deren Grund und Boden sich zu dem projectierten Bau benutzen lässt, für den Preis von 160 Rtl. außergerichtlich angekauft …“. Die örtliche Kirchengemeinde finde „nichts dabey“, dass auf dem Platz eine Synagoge erbaut werde.

Nachdem die Planungen schon weit fortgeschritten waren, wurde das Projekt jedoch gestoppt, weil „die angekaufte Baustelle von der durch Harmuthsachsen fließenden Wehre bei hohem Wasserstand überschwemmt wird …“. Stattdessen kaufte die Gemeinde von dem Harmuthsächser Schreiner Wilhelm Linker ein Hinterhaus und eine Scheune mit der Absicht, die Scheune zur Synagoge umzubauen und in dem Nebenhaus eine Wohnung für den Lehrer, einen Schulsaal und ein „Badehaus“ (Mikwe) einzurichten.10 Noch bevor die Genehmigung der Regierung vorlag, begann die Gemeinde mit den Baumaßnahmen. Die Planung der Baumaßnahmen erfolgte nicht durch Landbaumeister Matthei, sondern durch einen Zimmermann. Mattheiprotestierte am 27. Juli 1831 bei der Kurfürstlichen Regierung gegen dieses eigenmächtige Vorgehen.11 Nachdem das „Vorsteheramt der Israeliten in der Provinz Niederhessen“ trotz erheblicher Bedenken gegen die Planungen am 28. August 1831 seine Zustimmung gegeben hatte, erteilte die Regierung in Kassel am 6. September 1831 die vorläufige Baugenehmigung. Der vom Kreisrat in Witzenhausen erneut hinzugezogene Landbaumeister Matthei schlug noch einige Verbesserungen vor, unter anderem weitere Fenster in der Synagoge und einen anderen Zuschnitt der Lehrerwohnung. Im Jahr 1833 entstand so nach jahrelangen Planungen ein jüdisches Gemeindezentrum mit Synagoge, Lehrerwohnung, Schulsaal und Mikwe.12

Die Scheune wurde zur Synagoge umgestaltet. An der Ostseite wurde eine Art Apsis angebaut, die den Thoraschrein aufnahm. Über dem Thoraschrein war eine hebräische Inschrift angebracht: "Ich habe geruht unter Euch - Kinder Israels".13 Um das Gebäude von einer Scheune oder einem Wohngebäude auch äußerlich abzusetzen, wurden großflächige Sprossenfenster mit einem bogenförmigen oberen Abschluss eingebaut. Der jüdische Kunsthistoriker Rudolf Hallo, der die Synagoge besucht hatte, lobte den Baumeister: „Vorbildlich ist es dem Meister in Harmuthsachsen gelungen, durch Fenster in den Schrägwänden seines Erkeranbaus um den zurückgeschobenen Schrein Licht auf die Heilige Lade zu werfen …“.14 Ohne Erlaubnis der Regierung wurde nach dem Entwurf des Zimmermeisters auch ein Dachreiter errichtet.15

In der Synagoge wurde eine hufeisenförmige Frauenempore eingebaut, die über eine Treppe zugänglich war. In der Mitte des Raumes wurde ein erhöhtes Pult hinzugefügt für die gottesdienstlichen Lesungen („Bima“ bzw. „Almemor“). Der Innenraum wurde mit tiefblauer Farbe ausgemalt. Wände und Decken waren vermutlich mit Ornamenten und Symbolen ausgeschmückt, von denen jedoch nur noch geringe Reste erhalten sind.

Die Festrede zur Einweihung der neuen Synagoge hielt am 15. Februar 1833 der Eschweger Kreisrabbiner Philipp Goldmann.16 Er dankte dabei Gott für die „Emancipation“ der kurhessischen Israeliten, mit der ein neues Zeitalter begonnen habe, und forderte die Festgemeinde auf, „tätige und nützliche Bürger“ zu werden.

Mehr als 100 Jahre war die Synagoge der Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde Harmuthsachsen. Der schon im 19. Jahrhundert einsetzende Mitgliederrückgang wurde durch den Nationalsozialismus verstärkt. Julian Lorge, der letzte Vorsteher der Gemeinde, bot der Harmuthsächser Familie Mengel die Synagoge mehrfach zum Kauf an. Im Jahr 1938 wurde sie dann tatsächlich an Familie Mengel verkauft und fortan wieder als Scheune genutzt. Dieser Umstand verhinderte, dass sie in der Pogromnacht im November 1938 angezündet oder zerstört wurde. Die rituellen Gegenstände aus der Synagoge wurden nach Kassel gebracht und sind dort wohl während des Novemberpogroms 1938 vernichtet worden.17

Im Jahr 1985 war die Scheune nicht mehr im Gebrauch, sondern an einen neuen Besitzer verkauft, der kein Landwirt war.18 Der bauliche Zustand verschlechterte sich, weil keinerlei Erhaltungsmaßnahmen erfolgten. In den 1990er Jahren stellte der neue Besitzer einen Abbruchantrag. Dem Antrag wurde jedoch nicht entsprochen. Der damalige Waldkappeler Bürgermeister Peter Hillebrandt bemühte sich um den Erhalt der Synagoge. Er pachtete als Privatmann die Synagoge, um sie für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Gebäude wurden unter Denkmalschutz gestellt. Im Jahr 1996 wurde die ehemalige Synagoge ausgeräumt und restauratorisch untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass sich eine ganze Reihe von Ausstattungstücken erhalten hatten.19 Die Synagoge wurde in Dach und Fach instandgesetzt und damit vor dem Verfall gerettet. Im Jahr 2004 erhielt Peter Hillebrandt dafür den Hessischen Denkmalschutzpreis.20 Der Besitzer verlängerte jedoch im Jahr 2005 den Pachtvertrag nicht mehr. Er bot dem Land Hessen die Immobilien zum Kauf an. Über den Kaufpreis konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. Es kam zu gerichtlichen Auseinandersetzungen über die bauliche Unterhaltung der Gebäude. Der Besitzer untersagte den Zutritt zum Grundstück und zu den Gebäuden. Der Verein der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis möchte die ehemalige Synagoge und das Nebengebäude, in dem sich die Schule und die Mikwe der Gemeinde befanden, erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Eine Mikwe befand sich im Erdgeschoss des Nebenhauses, in dem auch eine Lehrerwohnung und der Schulsaal untergebracht waren.

Schule

Während die jüdischen Kinder für den allgemeinen Unterricht bis zum Jahr 1863 die Dorfschule besuchten, fand der Religionsunterricht zunächst in der Wohnung des jüdischen Lehrers statt, der zugleich auch als Vorbeter in der Synagoge tätig war. Vorsänger, Lehrer und Schächter der jüdischen Gemeinde war von 1817 bis zum Jahr 1862 Sandel Sommer.21 Im Jahr 1862 wurde eine jüdische Elementarschule eingerichtet, die bis 1925 bestand. Sie war zunächst in von der Gemeinde angemieteten Räumen untergebracht. Erst im Jahr 1891 konnte die jüdische Gemeinde das große Haus in der Bilsteinstraße 12 erwerben, in dem auch eine Lehrerwohnung untergebracht war. Weitere Lehrer und Vorsänger waren Moses Neuhaus (1862-1909), Männy Rosenbusch (1910 bis 1919) und Gustav Kron (1920 bis 1925).22 Wegen der geringen Zahl von Schülerinnen und Schülern wurde die Schule 1925 aufgelöst.

Cemetery

Zur Gemeinde gehörte ein alter jüdischer Friedhof mit Grabsteinen ab 1690.23 Da er weit vom Dorf „Auf dem Rauschenberg“ gelegen ist, wurde im Jahr 1906 am Rande des Dorfes ein neuer jüdischer Friedhof angelegt, auf dem sich 23 Grabsteine aus der Zeit zwischen 1906 und 1936 befinden.24

Harmuthsachsen, Alter Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Harmuthsachsen, Neuer Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Harmuthsachsen, Alter Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Hundelshausen, Herren von · Hessen-Kassel, Landgrafen von · Matthei, Johann Friedrich · Linker, Wilhelm · Hallo, Rudolf · Goldmann, Philipp · Lorge, Julian · Mengel, Familie · Hillebrandt, Peter · Sommer, Sandel · Neuhaus, Moses · Rosenbusch, Männy · Kron, Gustav

Places

Waldkappel · Kassel · Eisenach · Köln · Leipzig · Südafrika · USA · Witzenhausen · Rodenberg am Deister · Eschwege

Sachbegriffe Geschichte

Schutzbriefe · Schutzjuden · Emanzipation · Pogrome · Erster Weltkrieg · Shoah · Holocaust · Schlachtsteuern · Pogromnacht · Hessischer Denkmalschutzpreis · Denkmalschutzpreis · Verein der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meissner-Kreis

Sachbegriffe Ausstattung

Heilige Lade · Bima · Almemore

Sachbegriffe Architektur

Apsiden · Thoraschreine · Inschriften · Sprossenfenster · Erker · Frauenemporen · Treppen

Fußnoten
  1. 800 Jahre Harmuthsachsen
  2. Küther, Ortslexikon Kreis Witzenhausen, S. 54
  3. Alter Jüdischer Friedhof Harmuthsachsen in LAGIS (s. Link oben)
  4. Kollmann, Spuren einer Minderheit, S. 87
  5. 800 Jahre Harmuthsachsen, S. 67
  6. Hocke, Harmuthsächser Opfer der Schoah, S. 16
  7. Hocke, Harmuthsächser Opfer der Schoah, S. 16
  8. Küther, Ortslexikon Kreis Witzenhausen, S. 54
  9. HStAM 18, 2682; HStAM 18, 2709
  10. HStAM 49 d, Witzenhausen 186, fol. 1
  11. HStAM 53 a, 1006
  12. Eine detaillierte Baubeschreibung bei Altaras, Synagogen, S. 191 f.
  13. Der Holzbogen mit der Inschrift ist in der Synagoge erhalten.
  14. Hallo, Schriften zur Kunstgeschichte in Kassel, S. 378
  15. Hallo, Schriften zur Kunstgeschichte in Kassel, S. 334
  16. Vgl. zum Folgenden Goldmann, Philipp: Predigt bei der Weihe der neuen Synagoge der Israelitischen Gemeinde zu Harmuthsachsen, in: Sulamith 8 (1834), S. 69–76 (s. Weblink)
  17. Rosi Schoschanah Katz geb. Hammerschlag gibt Auskunft über das Inventar der Synagoge, Jerusalem 1960: The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem (CAHJP), JSRO-hes-274 (s. Weblink)
  18. Altaras, Synagogen,S. 192
  19. Kollmann, Spuren einer Minderheit, S. 61
  20. Hessischer Denkmalschutzpreis 2004, S. 24
  21. HStAM 18, 2682, fol. 24
  22. Über Kron vgl. Hocke, Harmuthsächser Opfer der Schoah, S. 19-22
  23. Bestattet wurde David, Sohn des Chesekiel, der am 4. April 169 verstorben war. Vgl. Alter Jüdischer Friedhof Harmuthsachsen in LAGIS (s. Link oben)
  24. Vgl. Neuer Jüdischer Friedhof Harmuthsachsen in LAGIS (s. Link oben)
Recommended Citation
„Harmuthsachsen (Werra-Meißner-Kreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/641> (Stand: 11.7.2023)