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„Flurbereinigung“ in der deutschen Chemieindustrie – Farbwerke Hoechst AG werden Mehrheitseigentümer bei Cassella, 1. Januar 1970

Mit einem auf Punkt null Uhr am Neujahrstag datierten Ringtausch von Unternehmensbeteiligungen im Wert von mehr als einer halben Milliarde DM geht ein jahrelanger Machtkampf der deutschen Chemieriesen Farbenfabriken Bayer, Farbwerke Hoechst und Badische Anilin- & Soda-Fabrik (BASF) zu Ende. Die Nachfolgeunternehmen des I.G. Farben-Konzerns, die seit 1925/26 unter dem Dach der I.G. Farben zusammengeschlossenen waren, und 1950/51 durch Ausgliederung und Neugründung ihre rechtliche Unabhängigkeit wiedererlangten, haben sich auf eine endgültige Lösung geeinigt, bei der die Farbwerke Hoechst ihre Anteile an der in Frankfurt am Main ansässigen Holding Chemie-Verwaltung AG (ihrerseits Mehrheitsanteilseigner der Chemischen Werke Hüls in Marl) an die Bayer AG abtritt (Kostenpunkt: 412,6 Millionen DM) und dem Leverkusener Unternehmen darüber hinaus einen 25-prozentigen Anteil an der Bunawerke Hüls GmbH verkauft (45,1 Millionen DM). Die Bayer AG veräußert im Gegenzug 25,1 % Anteilsbeteiligung an der Cassella Farbwerke Mainkur AG aus eigenem Besitz, sowie nochmals 25,1 % Anteilsbeteiligung an Cassella, die Bayer kurzfristig von der BASF übernommen hat, an Hoechst (Paketpreis 132,6 Millionen DM). Hoechst erhält damit über 75 % der Cassella-Aktien, Bayer ist an der Hüls-Holding Chemie-Verwaltung AG zu 72 % beteiligt. BASF übernimmt in einer zusätzlichen Transaktion den 25-prozentigen Anteil des Bayer-Konzerns an der Kölner Lack-Firma Herbol-Werke Herbig-Haarhaus AG (20 Millionen DM), wird damit zum Alleineigner des Hauses Herbol und erhält obendrein vom Bayer eine Barsumme von 46,3 Millionen Mark.1

Die von der Presse als „Flurbereinigung“ betitelte endgültige Einigung der deutschen Chemiekonzerne über die Aufteilung der I.G. Farben ist möglich geworden, weil der Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG, Karl Winnacker (1903–1989), den beiden Hauptkonkurrenten im Herbst 1968 anbot, die von seinem Unternehmen gehaltenen Anteile an den Chemischen Werken Hüls bzw. der Frankfurter Holding-Gesellschaft Chemie-Verwaltungs-AG (Hauptanteilseigner von Hüls) freizugeben, wenn Bayer und BASF sich im Gegenzug bereit erklärten, ihre Anteile an der Cassella an Hoechst zu veräußern.2

Die bei der Ende 1969 beschlossenen Tauschoperation eine Schlüsselrolle spielende Cassella Farbwerke Mainkur AG3 war bereits 1904 (damals als Farbwerke Leopold Cassella & Co firmierend) anteilig in Besitz der Farbwerke Hoechst gelangt. Der sogenannte Zweibund zwischen den beiden Unternehmen kam ebenfalls durch einen Tausch zustande, bei dem die Cassella-Eigentümer ein Viertel ihrer Anteile abtraten, und als Gegenleistung Hoechst-Aktien erhielten. Ferner verzichteten die Farbwerke Cassella fortan darauf, bestimmte eigene Produkte (Säuren, Soda, Anilin), die in Konkurrenz zu Hoechst entstanden, weiter selbst zu produzieren. Stattdessen bezog man die Stoffe nunmehr von Hoechst, um sie weiter unter eigenem Namen anzubieten, und verlagerte den eigenen Fabrikationsschwerpunkt auf die Herstellung von Farbstoffen. Zusammen mit einem weiteren assoziierten Chemieunternehmen, der Kalle AG, die ab 1907 ebenfalls Lieferbeziehungen und Kapitalverflechtungen mit Hoechst vorzuweisen hatte, trat man in lebhafte Konkurrenz zu einem ganz ähnlich strukturierten Zusammenschluss von BASF, Bayer und Agfa.4
(KU)


  1. DER SPIEGEL 3/1970, S. 33 f.
  2. DER SPIEGEL 44/1968, S. 36.
  3. Zu den Hintergründen vgl. ausführlich: Die BASF, S. 464 ff.
  4. Die BASF, S. 18, S. 133.
Records
Additional Information
Recommended Citation
„„Flurbereinigung“ in der deutschen Chemieindustrie – Farbwerke Hoechst AG werden Mehrheitseigentümer bei Cassella, 1. Januar 1970“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/4302> (Stand: 1.1.2023)
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