Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 29: Todesnachrichten erreichen Lißberg

[105-108] […]

[S. 105] Aufgeregt eilt die Nachbarin in mein Zimmer. Verstört und fassungslos sieht sie aus wie eine, die ein großes Unglück gesehen hat und nun einen holen will, zu retten und zu helfen. Sie spricht nur drei Worte, und ich weiß genug: also der große dunkle unheimliche schwarze Flügel ist nun auch über unserem Tälchen erschienen .... Ich raffe meine Seele auf und gehe in das weiße Häuschen, das das Haus der Jugend unseres Toten ist.

[S. 106] Die Mutter ist verlassen und allein. Sie weint, und wir halten ein leises Gespräch miteinander. Aber als die Stube zum Zielpunkt klagender Freundinnen wird, vertreibt es mich, und ich mache mich auf, den Vater zu suchen. Er ist weit draußen in den Wiesen, wohin noch kein andrer Mensch am gleichen Tage gekommen ist. Er weiß nichts, und ich soll es ihm sagen . . .

Unzählige Pfade und Wässerchen eilen mir voraus und zur Seite durch die Wiesen. Sie springen fröhlich und lachen heiter; und treiben Scherz mit Blumen und Halmen. Ich aber mag sie nicht begreifen. Denn ich trage ein schweres Herz; und das wird schwerer und schwerer, je weiter meine Pfade laufen. Es ist hart, des Todes Bote sein zu müssen mitten im blühenden Leben.

Endlich sehe ich von ferne, den ich suche. Er sitzt auf seiner Mähmaschine und rattert durch das blühende Gras, das ihm gehört. Mit geschickter Hand die Pferde zu immer engeren Spiralen lenkend und Reihe neben Reihe legend fährt er auf seiner Wiese unermüdlich rundum. Unwillkürlich bleibe ich einen Augenblick stehen und schaue mir den Mann und seine Arbeit an. Denke mir sein ernstes und strenges Gesicht und fühle in mir einen leisen Schreck: das ist der Tod, der durch die Felder geht.

Und plötzlich will ich meine bittere Last los werden und fange an zu laufen — quer durch die [S. 107] Wiesen und über die Gräben und Wasser. Es ist mir, als solle ich rufen: Halt, ein Mann, Tod . . . dein Sohn!! Aber ich lege meinen Nerven Fesseln an und zwinge mich, langsam zu gehen.
So betrete ich die Wiese.
Dann kommt der Mann mit der Maschine näher, und ich trete ihm zur Seite. Da ist kein Gleichnis mehr für mich, sondern nur ein armer, bedauernswerter Mensch, den ich beweinen möchte. Noch einen Augenblick würge und schlucke ich. Dann kann ich's sagen.
Still und unbeweglich sitzt der andere neben mir auf seiner Maschine. Tränen fließen über seine Wangen; das Blümchen behält er weiter im Munde. Unruhig stampfen die Pferde, doch hält sie seine Hand unvermindert stark im Schach.
Keiner von uns spricht.
So stehen wir lange Zeit.
Endlich blickt er auf, sieht mich an und fragt, warum er nun gearbeitet habe. Nimmt dabei das Blümchen aus dem Munde und betrachtet wie geistesabwesend sein abgeschnittenes rotes Leben. Lange, lange...
Aber plötzlich läßt er's falten und ruft seinen Pferden. Fort sind Tränen und Nachdenken. Hart werden die Züge, noch ein kurzes Dankeswort an den Vernichter seiner Hoffnungen — und lärmend wie vorher rattert die Maschine durch das Gras.
[S. 108] Noch ein Weilchen sehe ich ihr zu. Kranz um Kranz junger Halme und Blumen legt sie unerbittlich tötend um den Mann, der auf ihrem Rücken sitzt und krampfhaft die Lippen zusammenpreßt, damit er nicht zu weinen braucht über das Leid, das ihm ins Herz sticht.
Und ich denke wieder: es ist doch der Tod, der Tod inmitten seiner echtesten Kränze!!


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Gefallene · Todesnachrichten · Mähmaschinen · Landwirtschaft · Trauer
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 18: Todesnachrichten erreichen Lißberg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-29> (aufgerufen am 26.04.2024)