Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 22: Erfolgreiche Ernte im Kriegsjahr 1914

[60-62] Der Krieg mit dem Land.

Als die Krieger fortgezogen waren, hing es über dem Dorfe wie eine schwere doppelt dunkle Wolke. Denn die Sorge, die mit dem Ausziehenden ins Abteil geschlichen war, die sein Antlitz um so mehr verdüsterte, je längere Blicke er als letztes Lebewohl über die entschwindenden Felder schickte — dieselbe Sorge lag als drückender Alp auch auf dem Herzen der Heimat. Draußen auf den Äckern wogte golden und schwerreif das Korn. Leise war sein Rauschen und stark sein Duft. So muß Rauschen und Duft sein; dann lockt es den Schnitter, daß er aufstehe und hingehe und das Korn in Mahden zu seinen Füßen lege.

O, wie lockte das Korn in jenen Augusttagen! Und die Schnitter merkten dieses Locken wohl: es war ja ihre Sorge. Aber sie zogen zu einer anderen Ernte. Und zu Hause blieben nur die Greise, Buben, Frauen und Halbstarken. Damals wurde manches bange Wort gesprochen und mancher ängstliche Blick nach dem Himmel gesandt, auch mancher Zweifel ausgesprochen, ob es gelinge.
Aber es gelang! Es ist nachher noch Schwereres gelungen in noch böseren Tagen.
Als die Ernte da war, wuchs nach kalten und feuchten Julitagen eine täglich hellere und heißere Sonne. Wie ein Segen legten sich ihre warmen [S. 61] Strahlenhände über die Scheitel der Hügel, über die Herzen der Bauern. Jene glühten und trockneten, verminderten die Arbeit; diese hämmerten lebendiger als sonst das Blut durch Pulse und Adern, verdoppelten die Kraft. Und Sonne und Hügel und Herzen — sie ließen vereint Unglaubliches geschehen: es flog weniger Zeit als sonst über der Ernte ins Land, und dennoch hatte jeder mehr gearbeitet als in früheren Jahren.

Das war das Wunder der Ernte 1914. Die Menschen sahen sich und ihre Felder an und staunten. Sie fragten einander, wie das möglich sei, und schauten gen Himmel und wußten nur eine Antwort. Ich habe sie mehr als einmal gehört in jenen Tagen, nicht nur zu mir gesagt, sondern auch zu anderen, bei denen man nicht an den Pfarrer dachte:
„Häi hot us Gott geholfe!"
Und dann kam aus dem Dufte des Getreides, dem Glühen der Sonne, dem Herzschlag der Arbeit und der Freude über das gelungene Werk das große Erlebnis des Sieges, ehe er geschlagen war. Gewiß, auch so war unsere Hoffnung stark, daß unsere Heere das Große schon vollbringen würden. Aber zur Gewißheit, zum Glauben ist uns diese Hoffnung auf dem Lande erst durch unsere Ernte geworden. Auf einmal ging es wie ein großes Offenbaren durch die Seelen der Landleute: Gott will uns nicht untergehen lassen, sonst hätte er uns nicht so wunderbar die Ernte gerettet; er hat seine [S. 62] Sonne uns gesandt, und Engel haben neben uns auf dem Felde gemäht; kein Feind wird diese Fluren je zertreten. So kam auf dem Lande aus dem Erntefeld der Siegesglaube, ein wahrhaft religiöser Glaube. Noch war keine Nachricht von einer gewonnenen Schlacht in unser Dorf gekommen. Aber mit jedem Sensenstrich klang hell im Herzen ein Siegesjubel: Nein, Gott will es nicht, wir sollen nicht verlieren!!

So ist es doch etwas Besonderes um die Siegeszuversicht auf dem Lande. Nicht überall war sie von Anfang an da. Aber überall ist sie als großes Erlebnis buchstäblich aus dem Boden gewachsen, über den der Schnitter seine Schritte lenkte.
Wer will leugnen, daß damit dem Vaterlande etwas geschenkt worden ist, das unermeßlich ist in seiner Bedeutung für den großen Ausgang!?


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Erntearbeiten
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 5: Erfolgreiche Ernte im Kriegsjahr 1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-22> (aufgerufen am 26.04.2024)