Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Feldpostbriefe und -karten des Einjährig Freiwilligen Richard Weber aus Wächtersbach

Abschnitt 10: 24.10.1914: Feldpostbrief aus der Gegend westlich Lille

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5 km westlich von Lille1, 24.10.1914

Liebe Angehörige!

Wie ich Euch schon mitgeteilt hatte, sind wir jetzt im Kampf gegen Engländer. Habe vorhin Kartengrüße übermittelt und will jetzt etwas ausführlicher werden. - Als wir aus unserer waldreichen Gegend der Ardennen herauskamen, glaubte ein jeder, jetzt scheint es besser zu werden, jetzt wird unser Regiment, das 71 % Verlust hatte, geschont werden, aber wie hatte man sich verrechnet. Gestern morgen 4.30 Uhr machte unser Rgt. einen Sturmangriff auf die Schützengräben der Engländer, die musterhaft angelegt waren. Kurz nach 12 Uhr nachts wurde ich schon als Befehlsempfänger zur Division geschickt und brachte den Befehl zum Sturm um 4.50 Uhr. Diesen Befehl hatte ich noch zur Brigade, zum Regimentsstab und zum Bataillon zu bringen und konnte mich dann noch eine Stunde in den Schützengraben legen. Nun sollte es losgehen. Alles stieg mit schwerem, bangem Herzen aus den Gräben heraus und pflanzte das Seitengewehr auf. Kaum waren wir 200 m vorgegangen, da kam ein tiefer, breiter Graben mit Sumpfwasser, den mußten wir durchwaten. So kamen noch zwei Gräben, die immer tiefer wurden. Bei dem letzten Graben schrien viele um Hilfe und der Feind, der nur noch 300 m von uns entfernt war, hörte das. Jetzt ging das Gewehrfeuer los. Wir liefen noch mit unseren durchnäßten Uniformen, die Stiefel voll mit kaltem stinkendem Sumpfwasser bis auf 100 m an den Feind heran. Nun rasselte es nur so von feindlichen Kugeln. Maschinengewehre wirkten ganz schrecklich auf uns, Leuchtkugeln und Scheinwerfer beleuchteten uns und wir warfen uns hin, mit Händen Helmschiene und Kinn den Kopf in den weichen Boden wühlend. Jetzt wurde das Elend mit vollen Eimern auf uns gegossen. Aus allen Ecken hörte man die Jammerrufe: Hilfe, ach Gott, ich blute mich tot, verbindet mich, meine Arme sind zerschossen, ach Mutter, bringt mich zurück übers Wasser. Und über uns funkelten die Sterne so friedlich herunter auf ein blutbedecktes Gefilde. Als wir noch etwas weiter vorkrochen, kamen wir auf Drahthindernisse, die wir nicht durchbrechen konnten. Alles ein großes Durcheinander. Da kam der Befehl zum Rückzug; alles lief was nur konnte und was verwundet war und nicht laufen konnte wurde dann von den Engländern bei Tagesanbruch in Fetzen geschossen. Ich kroch nur bis zum Wassergraben zurück und blieb dort im Wasser bis zur Nacht und rettete mich so durch Klugheit vor großem Elend. Was war nun der Erfolg von allem? Der Sturmangriff war mißglückt, wir mußten uns zurückziehen und hatten von 1400 Mann 24 Offiziere und 636 Mann verloren. Das kann man ja gar nicht beschreiben, das muß ich Euch erzählen2.

Genug davon! Wir haben hier das schönste Wetter, den grellsten Sonnenschein am Tage und nachts

schläft es sich zu schön unter freiem Himmel. Ich bin gesundheitlich ganz auf der Höhe und fühle mich nicht mehr so schwach wie im September. Schickt mir nur weiter an Eßwaren. Das Paket Schokolade, das Emilie zurückbekam unter dem Vermerk: Lazarett, habe ich schon wieder erhalten.

Gratuliere Dir, liebe Mutter, zu Deinem Geburtstage mit dem Wunsch, Dich wiederzusehen!
Richard


  1. Das Infanterie-Regiment Nr. 168 wurde am 8. Oktober 1914 an der Aisne nach Valenciennes verladen. Am 20. Oktober erhielt es den Befehl zur Bereitstellung westlich von Lille. Die Verlegung war Teil des sog. "Wettlaufs zum Meer" im nördlichen Teil der Westfront nach der für das deutsche Heer ungünstig verlaufenen Marneschlacht.
  2. “erzählen“ unterstrichen

Personen: Weber, Richard
Orte: Lille · Aisne (Fluss) · Valenciennes · Ardennen
Sachbegriffe: Feldpost · Feldpostbriefe · Infanterie-Regiment Nr. 168 · Wettlauf zum Meer · Marneschlacht · Engländer · Schützengräben · Sturmangriffe · Seitengewehre · Gewehrfeuer · Uniformen · Maschinengewehre · Leuchtkugeln · Scheinwerfer · Drahthindernisse
Empfohlene Zitierweise: „Feldpostbriefe und -karten des Einjährig Freiwilligen Richard Weber aus Wächtersbach, Abschnitt 33: 24.10.1914: Feldpostbrief aus der Gegend westlich Lille“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/175-10> (aufgerufen am 28.04.2024)