Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918

Abschnitt 12: Bericht vom 23. April 1917 (2)

[1113-1115] Volksernährung in Stadt und Land

Die Wirkung der seit dem 16. d. Mts. verkürzten Brotration kann heute zutreffend noch nicht beurteilt werden. Der Vorteil der Erhöhung der wöchentlichen Fleischabgabe dürfte - auch infolge des Umstandes, daß die wohlfeilen Frühgemüse in diesem winterlichen Frühjahr so gut wie gar nicht vorhanden sind und deswegen einen weiteren Ausgleich für das fehlende Brot nicht schaffen - erst nach Wochen in Erscheinung treten. Immerhin wird es bis zur neuen Ernte gelingen, die Bevölkerung, wenn auch mit sehr fühlbaren Einschränkungen, noch ausreichend zu versorgen. Die Einwohnerschaft der großen Städte Frankfurt a.M. und Wiesbaden zeigt schon manche Zeichen der Unterernährung. Leider muß auch gesagt werden, daß die Anzahl der Sterbefälle in den beiden großen Städten im Zunehmen begriffen ist. Die Todesursache, besonders bei älteren Personen, ist auffallend häufig Herzschwäche. [1114] Steigende Sorge bereitet den zahlreichen Kur- und Badeorten des Regierungsbezirks die Ernährung der sehr zahlreich von auswärts zuströmenden Fremden. Es wird nicht möglich sein, mit den für sie z. Zt. zur Verfügung stehenden Lebensmitteln hauszuhalten. Ich habe deshalb - besonders auch seitens der Stadt Wiesbaden - ausgesprochene Wünsche auf außerordentliche Sonderzuweisungen dem Herrn Staatskommissar für die Volksernährung zur Prüfung empfohlen, obwohl die Kommunalverbände - nötigenfalls unter Unterstützung des Bezirks oder der Provinz - mit den im vergangenen Februar ausgeworfenen Zusatzquoten grundsätzlich auskommen sollen. Erschwert wird dieses Auskommen noch durch den Umstand, daß an allen Kur- und Badeorten und in deren Nähe, z.B. auch in Frankfurt a.M., zahlreiche, von vortrefflichen Ärzten geleitete Sanatorien bestehen, die von Kranken und Erholungsbedürftigen augenblicklich noch stärker besucht werden als in Friedenszeiten.

Die Anbaufläche für Brotgetreide, Hafer, Gerste und Hackfrüchte hat sich, verglichen mit dem Anbau in Friedenszeiten, etwas vergrößert. In einigen Teilen des Regierungsbezirks ist das Wintergetreide zum Teil ausgewintert; der dadurch entstandene Schaden dürfte aber nicht allzu empfindlich sein. Leider konnten infolge der ungünstigen Witterung die Frühjahrsbestellungsarbeiten erst sehr spät in Angriff genommen werden. Der vielfach fehlende Dünger wird den Ertrag ungünstig beeinflussen, während andererseits damit gerechnet werden darf, daß der außerordentlich harte Winter die Schädlinge, insbesondere die Mäuse und Schnecken, vernichtet hat. Der Bestand an Milchkühen ist jetzt noch ein verhältnismäßig guter, er ist nur um etwa 20 % gegen die Friedensziffer zurückgegangen. Dagegen hat die Milchergiebigkeit sehr nachgelassen; sie beträgt im Durchschnitt etwa 2 1/2 Liter am Tag.

Mitwirkung der Behörden bei Bewältigung der Ernährungsschwierigkeiten

Die Arbeitslast der Verwaltungsbehörden zur Bewältigung der Ernährungsschwierigkeiten wächst täglich in dem Maße, in dem die Erfassung und der Verbrauch immer weiterer Lebensmittel geregelt wird. Bei Erledigung dieser Aufgaben haben sich die in den Gemeinden geschaffenen Wirtschaftsausschüsse zu einer großen Stütze der Behörden ausgewachsen. Trotzdem würde an manchen Orten die ländliche Verwaltung versagen wird das Herausholen der Lebensmittel auf noch größere Schwierigkeiten stoßen, wenn nicht auch hier der oft bewährte Gendarm die Verwaltung unterstützte. Im allgemeinen haben die Behörden, die von einem im Winter begründeten "Bezirksausschuß für Frauenarbeit im Kriege" willkommene und sicherlich wirksame Hilfe erwarten dürfen, recht zu kämpfen, um die Landbevölkerung zur Herausgabe der für den eigenen Bedarf nicht unbedingt notwendigen Erzeugnisse zu veranlassen. Die aufgrund der Bundesratsverordnung vom 22. März 1917 eingesetzten Nachschaukommissionen haben mit großem Eifer gearbeitet. Soweit sich bisher übersehen läßt, sind die Hinterziehungen im Regierungsbezirk Wiesbaden nicht bedeutend gewesen.


Personen: Meister, Karl Wilhelm von
Orte: Frankfurt · Wiesbaden
Sachbegriffe: Getreidebau · Kur · Mengenrationierungen · Schädlinge
Empfohlene Zitierweise: „Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918, Abschnitt 29: Bericht vom 23. April 1917 (2)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/32-12> (aufgerufen am 02.05.2024)