Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 3: I. Schlachtfelder Forgeswald und Raffecourt

[23-25] […] 10. April 1916.
Nur wenige Stunden noch, und wir stehen im Feuer bei Béthincourt am Toten Mann.
„… Wer sein Leben lässet für seine Freunde . . ." waren die Worte des Pfarrers, als er mir heute den Kelch reichte.
Muß es denn sein? — Es sind doch so viele Blütenträume noch nicht gereift!
Dennoch bin ich stolz, gerade an diesen Kämpfen teilnehmen zu dürfen.
Ich habe wenig Hoffnung, davon zu kommen.
Wie mir zu Mute ist — ich kann es nicht sagen. Als ob meine Seele durch alles Leid und allen Kummer der Erde geschleift worden sei, wie ich meinen [S. 24] Leib durch allen Morast, durch abgrundtiefe, stinkende Schlammfelder des Toten Mann und der Mühle von Raffecourt gezogen habe. Es ist mir, als ob ich außerhalb der Welt und über ihrem Getümmel stehe und aus der Höhe hinab sähe in eine Nacht, aus der es keinen Ausweg gibt, in der das Grauen wohnt. Doch das Grauen ist durchzogen von einem dunkelroten Faden, von Blut und Tränen, die der Spur des Krieges folgen ....
Auch diese Gethsemanestunden gehen vorüber.

14. April 1916.
Die Mühle von Raffecourt! — Wie viele der Morast verschlungen hat, — niemand kann es sagen, niemals wird ein Mensch ihre Zahl wissen.
Nur ein Weg führt nach vorn: an der Mühle vorbei! Wir sind ihn alle gegangen, gerannt, gekrochen, gekeucht, die schwere Last der Maschinengewehre und Munition auf dem Rücken.
Wir müssen ihn gehen.
Das Eisen springt uns entgegen, am einen vorbei, dem andern ins Fleisch! Und todwund gleitet er in die Trichter hinab, die sich vollsaufen mit Regen und dem Wasser des Forgesbaches, der einst hier geflossen ist, der aber von Loch zu Loch sich weiter ins Gelände hineingefressen und zum tückischsten Sumpf sich erweitert hat . . .
Ich stelle mir den Tod als einen schönen Jüngling vor, der leise naht, um den Erwählten, dem er die Stirn geküßt, hinwegzuführen an weicher Hand.
Wenn ich aber eilenden Schrittes an der Mühle vorüberhaste in tiefer Nacht, so ist es mir, als sähe ich, [S. 25] seltsam hell, ein grinsendes Gerippe in schwarzen Trichtern, hinter wüsten Ruinen oder gestürzten, zersplitterten Pappeln hocken und lauern, das mit weitem Satz schauerlich knochenklappernd dem Menschen, der zagend, bang und müde und matt sich durch das dunkle, grausige Tal quält, ins Genick springt und ihn blutend hinabstößt in den Krater. Der Schlamm aber zieht sein Opfer hinunter, erstickt es auf weichem Pfühl und breitet sein graues und schwefelgasgelbes Laken über alles, alles . . . Nur ein Kochgeschirr oder eine Feldflasche künden, daß ein Mensch hier gestorben ist . . .
Wenn der Tod aber das Laken hinwegreißt, so schleudert er die Erwürgten in die stinkenden Lüfte — einen Kopf hierhin, einen Fetzen dorthin . . .
Dann wirbelt er in wildem Sicheltanz durch den ganzen Heckengrund, und die Sichel rauscht unter Donner und Blitz mit urweltlichem Tosen und Brausen durch das Tal der Vernichtung.
Und zerrissenes, faulendes Menschenfleisch versinkt im Schlamm . . .
O, du Mühle von Raffecourt! Wann endlich wird das berstende Eisen nicht mehr Knochen und Fleisch mahlen? Wann wirst Du auf immer stille stehn, du schauerliche Todesmühle?


Personen: Egly, Wilhelm
Orte: Béthincourt · Friedberg · Raffecourt
Sachbegriffe: Ruinen · Schlachtfelder · Tagebücher · Tod · Vorstellung
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 2: I. Schlachtfelder Forgeswald und Raffecourt“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-3> (aufgerufen am 11.05.2024)