Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 27: Große Spendenbereitschaft für Lazarette

[92-94] [S. 92] Von lieber Sorge.

Es ist nach der Ernte im Kriegsherbst. Da flattert eines Tages ein besonders großer Brief in den Ort. Er ist mit der Maschine geschrieben und kommt vom Roten Kreuz. Er erzählt von einem Reservelazarett in einer durch Besetzung und Durchmarsch besonders mitgenommenen Gegend des Elsaß und bittet um Lebensmittel.

Kaum ist der Brief in meinen Händen, so geht sein Inhalt auf die Wanderschaft ins Dorf, eilt von Hause zu Haus, schwingt sich auf die Lippen der Frauen und Kinder und setzt sich des Abends zu den Männern an den runden Tisch des Postwirts. Bald ist er das Tagesgespräch des Dorfes:
“Ma sammle vor die Saldoate!"
,Für die Soldaten', denkt der Bauer, ‚dazu für die Verwundeten!' Und er, der sich von dem, was er festhält, nichts nehmen lassen will, steigt selber hinab in den Keller, um schenken zu können, indes sein Weib, das unter dem Gedanken der Zwangsenteignung das Beben lernt, in den Garten eilt und ihr Gemüse sichtet.

Am nächsten Tage rollt ein großer leerer zweispänniger Wagen durch die paar Straßen auf dem Hügel. Vor ihm her fließt ein lieber freundlicher Schein — und wo ein Auge den Wagen sieht, setzt der Schein ein Helles Lichtchen hinein, so daß uns [S. 93] überall nur freundliche Gesichter grüßen und gefüllte Hände sich uns entgegenstrecken. Wem aber der Wagen nicht schnell genug geht, da er vor jedem Hause einen Halt macht, baut unterdessen neben seiner Haustüre allerlei auf, was er im letzten Jahre geerntet, und worüber er sich nun freut, daß er es schenken kann. Bald häufen sich die Kartoffeln, schönes und gutes Gemüse, Obst und andere Früchte. Und je voller der Wagen wird, desto mehr Hände bieten sich zur Hilfe für das Lazarett.

In der Hälfte des Dorfes ist der Wagen beladen. Aber noch stehen an einer Reihe von Türen Säcke und Körbe, schon fragen mich besorgte Kinder und Alte:
„Wann kommt ihr dann zu uns?"
So bleibt uns nichts anderes übrig, als noch einen Wagen in Bewegung zu setzen. Auch er wird gefüllt.
Das arme Dörfchen leistet Großes. Sogar einen Sack mit Mehl und ein Säcklein mit Wurst und Speck legt es schließlich auf den Wagen.
Und wenn mich einer fragt, woher es kommt, so kann ich nur das eine sagen: das ist die liebe Sorge, die bei uns auf dem Lande umgeht und in den gleichen Herzen, die so trotzig auf dem Ihren sitzen, Wunder tut; die liebe Sorge, die, wenn es um Lazarett und Wunden, Lazarettzug und Sanitätshunde, Kriegsblinde oder Krankenschwestern [S. 94] geht, aus den meisten Dörfern - auch vom Hügel — an Gut und Geld Unglaubliches zu holen weiß.

Die liebe Sorge baut uns auch ein Lazarett in die Nähe. Da steht talabwärts auf einem Hügel, der ähnlich wie der unsere liegt, ein altes Grafenschloß1. Auf dem hat schon Anno siebzig die weiße Fahne geweht. Darum ruhen die Dörfer nicht eher, als bis die Fahne wieder wie damals im Winde des Tales flattert und über die Wiesen leuchtet und den Menschen kündet: auch dieses Tälchen hat die Wunden, die es heilt. Es ist wundervoll, wie der Eifer dafür mit starken und raschen Schwingen in die Herzen fliegt. Sie wallen liefern und liefern alles, was ein solches Lazarett verlangt: Bettzeug und Wäsche, Geld, Lebensmittel und freiwillige Kräfte im Überfluß. Und eines Tages haben sie's erreicht. Die Leute stehen an der Straße oberhalb des Hügels und zeigen mit den Fingern talabwärts:
„Se weiht, de Fohne mit 'm rure Kreiz!"


  1. Gemeint ist das Schloss Ortenberg der Grafen von Stolberg über Ortenberg.

Personen: Herpel, Otto · Stolberg, Grafen
Orte: Lißberg · Ortenberg · Elsass
Sachbegriffe: Rotes Kreuz · Reservelazarette · Frauen · Kinder · Liebesgaben · Kartoffeln · Lazarette · Mehl · Wurst · Speck · Lazarettzüge · Sanitätshunde · Kriegsblinde · Krankenschwestern
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 17: Große Spendenbereitschaft für Lazarette“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-27> (aufgerufen am 06.05.2024)