Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 26: Erfassung und Bewirtschaftung der Agrarprodukte

[86-88] [S. 86] Und nun, in dieses ganze, von Jahrhunderten getragene, ungemein feste Gefüge von Stimmungen und Gefühlen für das Recht der Alleinbestimmung über Eigentum und Besitz rasselt eines Tages die Glocke des Polizeidieners. Was er verkündigt, ist kurz. Aber die Menschen an den Fenstern und in den Hoftoren werden bleich. Ihre Seele liegt wie unter einem Hammer: ihr Bestimmungsrecht gehört nicht mehr ihnen, sondern einem merkwürdigen unsichtbaren fernen Dinge, dem Staat. Man hat sie nicht darum gefragt, es handelt sich auch nicht um einen rechten Kauf — sondern man nimmt. Und sie selber sollen nur beaufsichtigte Verwalter sein dessen, das sie besitzen.

Der Polizeidiener ist sich ordentlich bewußt, daß er da etwas sagt, was die Menschen trifft. Er räuspert sich wiederholt und spricht deutlicher als [S. 87] sonst. In seinen Worten schreitet durch die Straßen der Sozialismus. Der fackelt nicht lange, sondern klopft an Läden und Türen. Aber die Menschenherzen wehren sich gegen ihn; denn sie fühlen instinktiv in ihm den ungeladenen, ungebetenen Revolutionär ihrer geistigen Verfassung.
Und der größte Kampf, die bitterste Sorge, das schwerste Stück nimmt seinen Anfang.

Die Bauernseele ist das Kampfgefilde.

Die Streiter gruppieren sich. Die alte Verfassung hat in sich selber eine große Kraft. Und sie findet in Gewohnheiten, alten und neuen Erfahrungen noch eine Reihe von zähen Mitkämpfern und Verteidigern. Da kämpft in vorderster Linie die langjährige Erfahrung, daß die Obrigkeit den bäuerlichen Besitz, seine Gewinnmöglichkeiten und das Recht der Selbstbestimmung über seine Verwendung seither nur gefördert hat. Daneben tritt der uralte Gegensatz gegen die „Stadtleut" und die Abneigung, für sie sorgen zu müssen, ohne einsehen zu können, was sie dagegen leisten. Da streitet ferner das Unbehagen, nun selber ein „Beamter", d. H. einer von denen, die der Landmann nicht gut leiden mag, sein zu müssen. Dazu kommt das Mißtrauen gegen den grünen Tisch, an dem seiner Meinung nach ohne rechte Sachkunde die Verordnungen entworfen werden, und eine gewisse Menge von Fehlmaßregeln, [S. 88] die nur geeignet sind, einen solchen Verdacht zu stärken.

Das sind die Verteidiger. Aber auch der Angreifer ist gewappnet. Zunächst freilich hat er nur einen einzigen Streiter zu seiner Verfügung; und dies dazu einen Despoten, der allen Widerstand durch den Haß, der ihm entgegenschlägt, verdreifacht: es ist der Zwang der Regierung. Solange er allein im Namen des Neuen gegen das Alte streitet, ist der Kampf, der nun anhebt, erbittert und hart.
Es ist reizvoll, diesem Kampf mitzuzusehen.

[…]


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Landwirtschaft · Polizeidiener · Landwirtschaftliche Erzeugnisse
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 17: Erfassung und Bewirtschaftung der Agrarprodukte“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-26> (aufgerufen am 27.04.2024)