Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 25: Frauen- und Kinderarbeit in der Landwirtschaft

[68-71] [S. 68] Der Kreisschulrat hat es uns zur Pflicht gemacht, die Schüler bei allen einigermaßen begründeten Fällen zur Feldbestellung zu beurlauben. Das ist nötig, denn die Kinder werden gebraucht. Gar mancher dankt jetzt für den Köcher, den er ihrer voll hat, wenn er früher vielleicht auch geseufzt. Das sehe ich deutlich im Gesichte eines Landsturmmannes in der Heuernte.

Aus seiner Garnison für drei Tage zur Hilfeleistung im Gröbsten beurlaubt, steht er, zur Abreise gerüstet, wieder am Bahnhof. Vor ihm seine Frau mit dem Kleinsten im Leiterwägelchen. Um sie herum wie lanzentragende Rittersleute die übrigen Vier mit ihren Wiesenrechen. Als der Zug kommt, streicht der Vater ihnen allen noch einmal über den Kopf. [S. 69]
Sichtlich getröstet nimmt er Abschied; auch von seiner Frau. Sein letztes Wort ist:
„'s is gaut, daß ma die Bauwe hon!" Ihr letzter Gruß: „Jo. Gott sei Dank!"

Der Zug entschwindet. Sie winken mit Schürze und Rechen, bis sie ihn nicht mehr sehen. Dann ein kurzes Besinnen, ein tiefer Seufzer, ein jähes Sich-aufraffen. Das Wägelein rasselt, die Sense, ans Bahnhöfchen gelehnt, fliegt auf die Schulter der Frau, ein kurzer Zuruf, und sie ziehen vom Abschied ins Feld. Die Mutter voran mit der Sense, hinter ihr ein Bub und Mädchen mit den Rechen und dem Brüderchen, zuletzt die ändern Buben ohne Brüderchen, aber mit dem Eßkorb und der Kaffeekanne an den Rechen. Es ist ein eigentümlicher Zug. Aber er ist ein wundervolles Sinnbild: der Zug der Reisigen zum Krieg mit dem Land.

Der Frauen allerschwerste Arbeit aber wartet ihrer in der Ernte des zweiten Jahres.

Ich gehe einen Hang hinauf und muß bei der Ecke des Waldes an einem Getreidefeld vorübergehen. Da sehe ich ein Weib sitzen. Sie bemerkt mich nicht, und ich gehe tiefer in den Wald und beobachte sie. Sie sitzt am Raine in der Furche. Neben ihr liegt die Sichel und die Sense mit dem Räff, dem schweren Instrument zum richtigen [S. 70] Zusammenhalt der eben geschnittenen Halme. Um ihr Haupt über dem schweren blonden Haare flattert das um eine weit nach vorn und hinten überstehende Pappe geschlagene weiße Kopftuch und weht ihr willkommene Erfrischung zu. Sie ist sichtlich erschöpft. Ich weiß, daß sie früher nie Korn geschnitten und es jetzt erst notdürftig gelernt hat, und kann ihre Ermattung verstehen. Ich wünsche nur, sie wolle noch länger ruhen. Aber schon erhebt sie sich wieder und ergreift das Räff. Bald steht sie wieder mitten in der Arbeit, in der schwersten Arbeit für das Weib auf dem Lande. Die Beine schwerfällig breit auseinandergesetzt, leise geknickt die Knie, den Oberkörper vornüber gebogen, weit mit den Armen ausholend, das Räff mit Wucht wider die Halme werfend, dabei nach regelmäßigem Takt den Leib um seine Längsachse von rechts zur Linken schwingend — so steht das Weib in der Feldschlacht der Heimat. Es ist eine der schöneren jungen Frauen des Dorfes, die ich so durch den Rahmen zweier Buchen beobachte. Aber als sie sich nun bückt, die Halme aufhebt und den Acker heraufkommt, um die Mahd in die Sonne zu breiten, erschrecke ich. So verzerrt sind ihre Mienen, so lechzend ist ihr Blick. Allein, ihren Mund krönt die Linie der Energie.
Da schäme ich mich, daß ich so im Schatten stehen muß und nicht helfen kann. Aber ich kann nicht. Ich habe es oft versucht, doch niemals haben sie's gelitten.
[S. 71] Es ist ein schlechter Trost: aber ich tröste mich mit den Kriegsgefangenen; die wollen sie hier auch nicht. Sie schaffen am liebsten alles allein. Und was die Hauptsache ist: wie die Tage kürzer werden, ist alles getan — so gründlich wie früher.
Er ist gewonnen, der Sieg übers Land.
Und doch, wie ist er schwer gewesen und voller Sorgen.
Und voller Sorgen!

[…]


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Schulräte · Schüler · Kinder · Kinderarbeit · Bahnhöfe · Landwirtschaft · Frauen · Frauenarbeit · Kriegsgefangene
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 16: Frauen- und Kinderarbeit in der Landwirtschaft“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-25> (aufgerufen am 28.04.2024)