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Hitler im Führerhauptquartier Adlerhorst, 24. Dezember 1944

Im Führerhauptquartier Adlerhorst bei Ziegenberg in der Wetterau erstattet Generaloberst Heinz Guderian (1888–1954), Chef des Generalstabs des Heeres, vor Hitler Bericht und gibt eine Übersicht „über die im Osten vor der deutschen Front aufmarschierenden sowjetischen Armeen“. Hitler kommentiert die Darstellung Guderians mit den Worten: Das ist der größte Bluff seit Dschingis Khan! ... Ich glaube nicht, daß die Russen überhaupt angreifen!

Guderian beschreibt in seinen Erinnerungen seinen Aufenthalt im Führerhauptquartier Falkenhorst: Aus diesen Überlegungen heraus war ich gewillt, den Kampf im Osten auszufechten, vorher aber den Kampf mit Hitler um die Freigabe der dazu nötigen Kräfte zu führen. Ich fuhr am 24. Dezember nach Gießen und von dort ins Führerhauptquartier zum Vortrag.
Bei dem Lagevortrag waren außer Hitler — wie gewöhnlich — der Feldmarschall Keitel, der Generaloberst Jodl, der General Burgdorf und eine Reihe jüngerer Offiziere zugegen. Mein Vortrag schilderte die feindliche Gliederung und die Stärkeverhältnisse so, wie ich sie oben wiedergegeben habe. Die Arbeit meiner Abteilung Fremde Heere Ost war mustergültig und absolut zuverlässig. Ich kannte ihren Chef, den General Gehlen, lange genug, um ihn und seine Mitarbeiter, seine Methoden und seine Ergebnisse beurteilen zu können. Die Voraussagen Gehlens haben sich bewahrheitet. Das ist eine geschichtliche Tatsache. Hitler sah die Dinge anders. Er erklärte die Angaben der Abteilung Fremde Heere Ost für Bluff. Er behauptete, die russischen Schützenverbände seien höchstens 7000 Mann stark, die Panzerverbände hätten keine Panzer. „Das ist der größte Bluff seit Dschingis Khan“ rief er aus, „wer hat diesen Blödsinn ausgegraben?“ Seit dem Attentat versuchte Hitler selbst, im größten Stil zu bluffen. Er ließ Artilleriekorps aufstellen, die tatsächlich nur die Stärke von Brigaden hatten. Panzerbrigaden wurden aufgestellt, die 2 Abteilungen, also ein Regiment stark waren. Die Panzerjäger-Brigaden bestanden nur aus einer Abteilung. Nach meiner Ansicht hat er damit nur Verwirrung in der eigenen Heeres-Organisation angerichtet, den Feind aber über unsere wahre Schwäche kaum hinweggetäuscht. Seine immer merkwürdiger werdende Mentalität ließ ihn nun vermuten, daß der Gegner ihm gleichfalls nur Täuschungen vorführe, Potemkin'sche Dörfer, und daß in Wirklichkeit die Russen voraussichtlich überhaupt nicht ernsthaft angreifen würden. Den Beweis für diese, meine Behauptung erhielt ich beim Abendessen, bei welchem ich neben Himmler saß, dem Oberbefehlshaber des Ersatzheeres und zugleich der Heeresgruppe „Oberrhein“, einer Organisation zur Verteidigung der Stromlinie und zum Auffangen von Flüchtlingen, zugleich dem Reichsinnenminister, Chef der deutschen Polizei, und Reichsführer SS. Himmler war sich seiner Bedeutung damals sehr bewußt. Er glaubte, ein ebenso gutes militärisches Urteil zu besitzen wie Hitler und natürlich ein viel besseres als die Generale. „Wissen Sie, lieber Generaloberst, ich glaube nicht, daß die Russen überhaupt angreifen. Das ist alles nur ein Riesenbluff. Die Zahlen Ihrer Abteilung Fremde Heere Ost sind maßlos übertrieben. Sie machen sich viel zu viel Gedanken. Ich bin fest überzeugt, daß im Osten nichts passiert.“ An dieser Naivität prallten alle Gründe ab.
Viel gefährlicher war der Widerstand Jodl's gegen die Verlagerung des Schwerpunktes nach dem Osten. Jodl wollte die vermeintlich wiedergewonnene Initia¬tive im Westen nicht verlieren. Er sah ein, daß die Ardennen-Offensive sich festgelaufen hatte. Aber er glaubte, daß der Gegner durch sie operativ in die Hinterhand geraten sei. Er glaubte, durch einen Angriff an einer anderen, dem Feinde unbekannten und unerwarteten Stelle einen neuen Teilerfolg erzielen zu können, und hoffte, aus einer Reihe von Teilerfolgen schließlich doch noch zu einer Lähmung der westlichen Gegner zu gelangen. […] Jodl also, in seinen Gedankengängen befangen, widersprach lebhaft, als ich den Abtransport der Kräfte aus den Ardennen und vom Oberrhein forderte. „Wir dürfen die soeben wiedergewonnene Initiative nicht aus der Hand geben“, war sein wiederholt vorgebrachtes Argument. Und Hitler folgte ihm nur zu gern, denn „im Osten können wir noch Gelände preis¬geben, im Westen nicht.“ Mein Hinweis, daß das Ruhrgebiet durch die Bombenangriffe der Westmächte bereits stillgelegt sei, daß die Transportmittel durch die feindliche Luftüberlegenheit zerstört wären, daß dieser Zustand nicht besser, sondern im Gegenteil immer schlimmer werden müsse, daß hingegen das Ober-schlesische Industriegebiet noch voll arbeiten könne, daß der Schwerpunkt der deutschen Rüstung bereits im Osten läge, daß der Verlust Oberschlesiens den Krieg in wenigen Wochen zum Erliegen bringen müsse – alles dies half nichts. Ich wurde abgewiesen und verlebte einen todernsten, traurigen Christabend in dieser höchst unchristlichen Umgebung. Die Nachricht von der Einschließung Budapests, die an diesem Abend einlief, trug nicht dazu bei, die Stimmung zu verbessern. Mit dem Hinweis, daß die Ostfront sich selbst helfen müsse, wurde ich abgespeist. Als ich nun erneut die Räumung Kurlands forderte, als ich verlangte, daß die aus Norwegen zurückkehrenden, früher in Finnland beschäftigten Kontingente wenigstens nach dem Osten befördert würden, erlebte ich eine neue Enttäuschung. Gerade die aus Norwegen kommenden Verbände waren für die Vogesenschlacht bestimmt; […] Am 25. Dezember, dem ersten Weihnachtsfeiertag, fuhr ich mit der Bahn zurück nach Zossen.

(OV)

Belege
Empfohlene Zitierweise
„Hitler im Führerhauptquartier Adlerhorst, 24. Dezember 1944“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2357> (Stand: 24.12.2020)
Ereignisse im November 1944 | Dezember 1944 | Januar 1945
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