Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 8: Abschnitt 8

[14-] Um 8 Uhr abends versammelten sich die Waisenkinder im Kasernenhof. Einige blieben vorläufig bei den Paketen, die andern folgten mir in die Stadt hinein. Es war ein Bild, wie es die Casselaner noch nie gesehen. [S. 15]

An der Spitze ein kleiner Mann mit dem langen Jesuitenrock und dem breiten, niedern französischen Pfarrerhut, hinter ihm 10 kleine Mädchen, gleichmäßig einfach in grau gekleidet, mit einem schwarzen Hut, aus der Brust eine Medaille an einem blauen Bändchen. Alles blieb stehen und schaute uns ganz erstaunt nach. Ja, wir waren seltene „Gäste". An der Ecke des Friedrichplatzes standen einige junge Mädchen, die laut auslachten. Mit der Amtsmiene eines Scharfrichters schritt ich energisch auf sie zu und fragte eigens etwas barsch: „Ihr habt wohl noch nie einen Jesuiten gesehen? Schauet nur genau! Denn in einigen Tagen werde ich wieder verschwinden". Die Mädchen waren paff. Wir gingen weiter. Erst als wir in respektvoller Entfernung waren, lachten die jungen Dinger wieder, und ich lachte auch. Es war ja nicht bös gemeint, weder von ihnen noch von mir.

Im Gesellenhaus wurden für die Waisenkinder Zimmer gemietet. Ein Polizeikommissar trat aus mich zu. — „Wenn der mich jetzt als Spion verhaftete!" Er tat es nicht, im Gegenteil! Es war Herr Polizeikommissar Janocha, auch einer jener Herren, denen wir Metzer zu großem Dank verpflichtet sind. Ernst und streng im Dienst zeigten sie uns stets ein mitleidiges Herz. „Können Sie französisch?" fragte er mich. Auf meine Bejahung, fuhr er fort: „Da ist nämlich mit den Elsässern ein katholischer Pfarrer mitgekommen, dessen Papiere in Ordnung sind. Der arme Mensch kann aber kein Deutsch. Wollen Sie ihm vielleicht beistehen?" — „Ganz gerne!" — „Dann werde ich ihn sofort hierher bringen." Sprachs und ging. Was sollte das für ein Pfarrer sein? Vielleicht einer aus unserer Diözese? Nach einer Weile ließ sich vor dem Gesellenhaus ein lauter Lärm vernehmen. Das war ein Geheul und ein Gejohl! Der Herr Polizeikommissar öffnete die Tür; an seiner Seite führte er den französischen Geistlichen. Hunderte von Menschen waren gefolgt. Man glaubte, es wäre ein französischer Franktireur. Der unglückliche Priester trug nämlich, wie ich, den langen Rock, den breiten Hut und obendrein am Hals das Bäffchen, gerade wie gewisse angeblich als Franctireurs erschossene französische Pfarrer, deren Bilder in manchen Buchhandlungen Cassels ausgestellt waren. Der Pfarrer bot ein Bild des Jammers. An der Stirne klaffte eine Wunde, die wohl von einem Steinwurf herrührte. Die Soutane war stark beschmutzt und auch zerrissen. Dazu ein seit drei Wochen unrasiertes Gesicht, verstörte, ängstlich dreinschauende Augen; wahrhaftig der Bedauernswerte glich eher einem Spion als einem Pfarrer. Ich bot ihm Essen an. Er lehnte ab. Ob der Aufregung vertrüge sein Magen nichts. Er habe bloß Durst. Über seine Reiseschilderungen hätte man weinen können. Er war Maristenpater, seit 34 Jahren Missionar in Samoa. Um seine etwas schwächliche Gesundheit wieder herzustellen, machte er eine Ferienreise nach Europa. Gerade am ersten Mobilmachungstag überschritt er die deutsche Grenze bei Metz und wurde dabei als spionageverdächtig verhaftet. Fast drei Wochen blieb er im Metzer Gefängnis. Am 19. als unschuldig entlassen, erhielt er einen Passierschein, um über Österreich nach Italien zu reisen. Ein höherer Metzer Polizeibeamte machte ihn darauf aufmerksam, daß er einen der Metzer Auswandererzüge benützen könne bis Coblenz, Frankfurt oder Mainz, je nachdem die Züge fahren, um dann über München weiter zu reisen. Aber nirgends ließ man ihn aussteigen. Nach vielem Zögern entschloß er sich, Zivilkleider anzulegen, übernachtete dann im Pfarrhaus St. Elisabeth und fuhr am ändern Tag nach München. Herr Polizeikommissar Janocha hat sich seiner freundlichst angenommen, ihn persönlich zur Bahn gebracht, alle möglichen Gänge für ihn besorgt. Der Eindruck, den der Pater von uns Deutschen mitgenommen, ist dadurch bedeutend gebessert worden.


Empfohlene Zitierweise: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 8: Abschnitt 8“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/99-8> (aufgerufen am 02.05.2024)