Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg


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Landturmmänner aus Steinau, um 1914

↑ Katha Merz, Ein Steinauer Kind erlebt den Ersten Weltkrieg, 1914-1918

Abschnitt 2: Kriegsalltag in Steinau an der Straße

[36-37] Vom Kriege selbst merkten wir zu Hause nicht viel, aber Angst und Leid herrschten unter den Menschen, da dauernd Todesnachrichten eintrafen. England verhängte die Hungerblockade über Deutschland, und wir bekamen weniger zu essen. Papa war inzwischen in Bialystok, das damals zu Rußland gehörte, in einem Kriegsgefangenenlager mit 2000 Russen als Koch gelandet und hatte täglich für die Gefangenen zu kochen. Wenigstens wurde da nicht geschossen, und er überlebte. Bei den polnischen Bauern konnte er Eier kaufen, die er ab und zu in Streu gut verpackt in Holzkistchen nach Hause schickte. Das war für uns eine große Hilfe. Oma bekam jeden Tag zwei Eier in die Suppe, die übrigen verwandte Mama zum Kochen, so kam immer etwas auf den Tisch. Ich selbst machte mich mit meiner Schulkameradin Liese Frischkorn selbständig und ging sonntags mit ihr nach Seidenroth zu den Bauern Eier betteln. In einem grünen Samt-Strickbeutel brachte ich immer so 10 Eier mit nach Hause, die ich natürlich den Leuten bezahlte. Mama freute sich sehr darüber; aber Milch und Eier verbrauchte Mama immer für die Mahlzeiten, für uns beiden Kinder kam nie ein Ei zum Essen auf den Tisch. Mehl zum Brotbacken war bei den Bäckern schon lange nicht mehr da; es war undefinierbar, wovon sie Brot backten. Wenn wir die Brotbüchse aufmachten, kam uns eine Wolke Schimmelstaub entgegen; denn das »Brot« war verschimmelt. [S. 37]

Von der Schule aus gingen wir »Laubheu« sammeln, das sollte für die Pferde sein. Auch die braunen Spitzen der Bäume, in denen die Blätter heranwuchsen, sammelten wir, das käme unter das Brot. Mama erinnerte sich, daß ihr Vater oft zu ihnen sagte, wenn sie am Essen mäkelten: »Ihr eßt noch Hobelspäne!« »Nun«, sagte sie, »ist es wirklich so weit«. Auch große Brennesselstengel wurden gesammelt, daraus entstand Nesselstoff. Wir sangen in der Schule »Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, heil Kaiser dir!« An den Wänden hingen Bilder vom Kaiser, von Hindenburg und dem Alten Fritz, dazu Sprüche wie »Wir müssen die Ohren steif halten« usw. Meine Schulkameraden und - kameradinnen mußten alle schon sehr viel auf dem Felde und im Stall arbeiten, aber uns Kindern kam das alles nicht so sehr zum Bewußtsein, das alles war für uns normal. Morgens klapperten die Holzschuhe auf den Gassen, wenn die Kinder in die Schule gingen, und im Sommer liefen die meisten Kinder barfuß. Mein Cousin Philipp hatte so feste Fußsohlen, daß er barfuß auf dem Stoppelacker rumlief. Wir, besonders ich, wollten auch gerne barfuß laufen, aber das konnten wir bei unserer Mama nicht durchsetzen, das wäre in ihren Augen so etwas wie ein sozialer Abstieg gewesen.


Personen: Merz, Katha · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser · Hindenburg, Paul von · Frischkorn, Liese
Orte: Steinau an der Straße · England · Russland · Bialystok · Polen · Seidenroth
Sachbegriffe: Blockadepolitik · Kriegsgefangene · Kriegsgefangenenlager · Russen · Bauern · Ernährungslage · Kriegsbrot · Bäcker · Barfußlaufen · Holzschuhe · Laubheu · Sammelaktionen · Pferde · Brennnesseln · Nesselstoff · Ersatzstoffe · Heil dir im Siegerkranz
Empfohlene Zitierweise: „Katha Merz, Ein Steinauer Kind erlebt den Ersten Weltkrieg, 1914-1918, Abschnitt 2: Kriegsalltag in Steinau an der Straße“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/81-2> (aufgerufen am 28.03.2024)