Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg


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Katha Merz aus Steinau, geb. um 1909

↑ Katha Merz, Ein Steinauer Kind erlebt den Ersten Weltkrieg, 1914-1918

Abschnitt 1: Kriegsbeginn, Tod des Patenonkels, Abschied des Vaters

[35-36] Als ich fünf Jahre alt war, griff dann schon die gottverdammte Politik in unser kleines Leben ein, sie hat dann unser ganzes weiteres Schicksal bestimmt. Der Erste Weltkrieg brach aus! Mein erster Eindruck davon war: Ich stand mit meiner Großmutter und meiner Mutter vor unserem Hause. Mama hatte einen gelb-gestreiften irdenen Milchtopf in der Hand, und beide waren sehr aufgeregt und ängstlich. Da fuhr ein Auto vorbei, ein Mann stand darin und rief allen Leuten zu: »Rußland zieht seine Truppen zurück!« Mama und Oma sagten nur: »Ach Gott«, und schienen aufzuatmen; aber es war wohl nichts damit, das Unglück brach über uns herein. Ich erinnere mich, daß ich morgens in meinem Kinderbettchen lag, da kam Onkel Konrad Merz, der Cousin meines Vaters, ins Schlafzimmer und weinte, weil er »Order« bekommen hatte und in den Krieg ziehen mußte. Papa und Mama redeten ihm gut zu, er würde ja wohl schon bald wiederkommen. Er hatte damals drei kleine Jungen, das vierte Kind war unterwegs, es war dann ein Mädchen, und er hat es nie zu sehen bekommen. Onkel Konrad kam nie wieder, er war vermißt, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekam Tante Sophie seine Erkennungsmarke zugeschickt, die bei Erdarbeiten in Frankreich gefunden worden war. [S. 36]

Eines Tages spielte ich an dem kleinen Brückchen der Sennelsbach, das über den Torgartenweg führt, und es läuteten die Elf-Uhr-Glocken. Da wurde ich ins Haus gerufen. Meine Mama stand in ihrem Schlafzimmer, kämmte sich die Haare und weinte still vor sich hin. Meine Oma stand dabei und sagte zu ihr: »Geh nur schnell mal hin zum Kathrinchen«, und mir wurde gesagt, mein Pätter sei gefallen. Meine arme Goth stand nun als junge Frau allein mit zwei kleinen Mädchen, Sannchen und Lieschen, da.

1916 wachte ich dann morgens einmal auf, Papa stand über mein Kinderbettchen gebeugt, küßte mich, weinte und nahm Abschied, er hatte Order bekommen und mußte einrücken, vorerst auf den »Griesheimer Sand« bei Darmstadt zur Ausbildung. Nach einigen Wochen nahm Mama meinen Bruder Fritz und mich an der Hand und ging mit uns an den Bahndamm am Hohrain, um unseren Papa noch einmal zu sehen und ihm zuzuwinken, da er nun »nach dem Osten« fuhr. Als wir droben standen und warteten, wurde aber der Zug am Bahnhof angehalten, und die Leute, die dort standen, konnten ihre Männer, Väter und Brüder noch einmal kurz sehen und sprechen. Wir sahen Papa aber dann bei der Vorbeifahrt nur noch am Fenster stehen und uns zuwinken, er weinte. Es kamen nun schwere Zeiten für Mama. Sie bekam ein sehr junges Dienstmädchen, »Quante Gretel«, die sie ja erst anlernen mußte. Soviel ich weiß, erhielt Mama monatlich vom Staat ca. 20 RM als Unterstützung, mußte uns alle ernähren, Haushalt und Garten versorgen, das Geschäft führen, die kranke Großmutter pflegen und auch uns vaterlose Kinder erziehen, die ihr, da die Autorität des Vaters fort war, nur widerwillig gehorchten.


Personen: Merz, Katha · Merz, Konrad · Merz, Sophie
Orte: Steinau an der Straße · Frankreich · Griesheim · Griesheimer Sand · Darmstadt
Sachbegriffe: Kriegsbeginn · Erkennungsmarken · Einberufungen · Glockenläuten
Empfohlene Zitierweise: „Katha Merz, Ein Steinauer Kind erlebt den Ersten Weltkrieg, 1914-1918, Abschnitt 1: Kriegsbeginn, Tod des Patenonkels, Abschied des Vaters“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/81-1> (aufgerufen am 25.04.2024)