Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 6: Verlegung an die Somme bei Péronne

[122-123]

Wohin mag unsere Reise gehen? Wir wissen nichts. Aber als wir nach einstündiger Fahrt uns Lille nähern, wissen wir wenigstens, daß wir in Frankreich bleiben. Wir fahren von Lille aus in südlicher Richtung durch eine weite Ebene, aus der sich an beiden Seiten der Bahn die riesigen Anlagen der französischen Kohlengruben erheben. Und diese weiten Ebenen, auf denen vor kurzem noch Kämpfe stattfanden, bieten jetzt ein solch friedliches Bild. Friedlich gehen unsere Soldaten hinterm Pflug, alles ist wieder beackert, und nur die einzelnen hölzernen Grabkreuze erinnern uns an die schwere Zeit.
Am Bahnhof Péronne1, unserm Ziel, wurden wir tadellos verpflegt, dann ging's mit dem schweren „Muckel" auf dem Buckel in zweistündigem Marsche nach Le Mesnil2.

28. März 1915. Unser 3. Zug ist hier in einer Dorfkirche untergebracht, die vom Weihnachtsfeste her noch sehr schön ausgeschmückt ist. Sie liegen dort auf Stroh und haben zweifellos das beste Quartier. Ich war soeben dort und erfuhr hier, daß heute Sonntag und sogar Palmsonntag sei. An einem Gottesdienste hätten wir heute alle sehr gern teilgenommen.
Am selbigen Palmsonntag abends gegen 5 Uhr brachen wir noch zur Front auf. Wir durften erst abends abmarschieren, um vom Feinde nicht bemerkt zu werden.
Das Wetter war klar, aber wir hatten mehrere Grad Kälte. Golden ging im Westen die Abendsonne hinter den Bäumen unter. Wir marschierten Parallel zur Kampffront auf der breiten Straße, die nach Brie3 führt. Wir kamen durch ein Dorf, das halb zerschossen und von der Bevölkerung verlassen war. Unsere Truppen hatten dort jetzt Ruhequartiere bezogen. Auf den Straßen jagten die Radfahrer und Meldereiter an uns vorbei, aber sonst waren wir wohl die einzige geschlossene Gruppe, die auf der Straße marschierte.
Plötzlich blitzte zur Rechten hoch in der Luft ein Schrapnell, ein weißes kleines Wölkchen blieb stehen, es folgte der Knall weiterer, die sich uns näherten. Ein feindlicher Flieger, der sich unserer Kompagnie näherte, wurde von unseren Geschützen beschossen. Rechts und links schlugen die Schrapnells um ihn ein, oft meinte man, er sei getroffen und müßte abstürzen. Es waren für uns spannende Augenblicke, aber immer wieder zog er seine Kreise weiter, um dann in der Ferne zu verschwinden. — Dicht hinter Brie erhielten wir den Befehl, Halt zu machen und einige Stunden bis zur Nachtzeit zu warten, da die Straße und unser zukünftiges Standquartier unter feindliches Artilleriefeuer [S. 123] genommen sei. Dicht an dem Wäldchen schlugen 2 Blindgänger ein.
Wir mußten also frierend warten, beobachteten am Abendhimmel das Aufblitzen der Schrapnells. Wir wurden verpflegt, auch wurde hier Post verteilt.
Wir haben klaren Mondschein. An uns vorüber ziehen jetzt in endlosen Reihen die in Ruhestellung kommenden Truppen mit Gesang an uns vorbei.
Um ½ 10 Uhr ging's endlich lautlos weiter. Es war ruhiger Abendfrieden. Und um ½ 11 Uhr kamen wir in unserm Quartier an, das Leutnant v. Sch. schon ausgemacht hat. Es ist das Schulhaus in Ablaincourt4, das dicht an der Kirche mit ihrem zerschossenen Turm liegt. — Es war ein feines Quartier. Wir holten uns Stroh, die Fenster und Türen waren noch ganz, da konnten wir uns ein Feuer machen.
Leider ist der Aufmarsch unserer Division den Franzosen nicht verborgen geblieben. Unaufhörlich surren die Flieger über uns und fliegen die Schrapnells über uns weg. Ein weißes Wölkchen bleibt nach dem andern am Himmel stehen. Wir sind gezwungen, unser schönes Quartier zu verlassen und Unterstände zu bauen oder fertige zu beziehen. Meine Gruppe baut sich einen riesigen Unterstand für 16 Mann, der außer der starken Baumstammlage noch 2 Meter Erddeckung erhält.
Nachmittags ließ mich unser Oberleutnant rufen, ich mußte zum Stabe des Regiments und dort unsere 2 ½ km lange Stellung in 1:5000 abzeichnen. Die Straße nach Omiécourt5, die ich fahren mußte, lag im Feuerbereich der feindlichen Artillerie, aber in der ganzen Stellung herrschte Ruhe.


  1. Péronne, französische Gemeinde im Département Somme.
  2. Heute Mesnil-Bruntel, etwa 6 km südlich von Péronne.
  3. Brie, Ort an der Somme, etwa 3,5 km südwestlich Mesnil.
  4. Heute Ablaincourt-Pressoir, 15 km südwestlich von Péronne.
  5. Omiécourt, Ort etwa 4 km südöstlich von Ablaincourt.

Personen: Fischmann, Wilhelm
Orte: Lille · Péronne · Brie · Mesnil-Bruntel · Ablaincourt-Pressoir · Omiécourt
Sachbegriffe: Kohlengruben · Grabkreuze · Landwirtschaft · Kriegszerstörungen · Radfahrer · Schrapnells · Flugzeuge · Geschütze · Postverteilung · Artillerie · Frontabschnitt: Somme · Westfront
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 6: Verlegung an die Somme bei Péronne“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/164-6> (aufgerufen am 28.04.2024)