Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 3: Aufenthalt in Tournai, Kontakt mit der Bevölkerung

[104-105]

Die Belgier sind ein elegantes Volk, das den Luxus liebt, aber eins hat mich baß entsetzt: wollt Ihr die neueste Damenhutmode wissen? Belgische Soldatenhutphantasien als elegante Kopfbedeckung. Selbst die Nummer des Regiments in bunten Farben darf nicht fehlen.
Als sich der Abendfrieden über die Stadt senkt, tändele ich langsam heim.
Bei der Rückkehr öffnet mir wieder diese fanatische Belgierin. Wir unterhalten uns im Vestibüle wohl noch eine Stunde zusammen. Der Tag gab mir abends noch eine Denkaufgabe mit ins Bett, sie erzählte mir wörtlich ziemlich folgendes:
„J’ai un frère à l’armée, nous n’avons pas de nouvelles de lui, il y a trois mois. Où il se trouve maintenant, Dieu seulement le sait. Dans cette maison, où a demeuré toujour la paix, la tristesse a fait son entrée. Toujours, nous avons ici des Allemands, et croyez-moi, ils ont été ici des barbares. C’était terriblement. Mon vieux père s’est retire, pardonnez-le, il aime son pauvre pays comme vous l’Allemagne, il adorait son fils, et moi j’aime aussi mon petit pauvre pays. Et qu’est-ce que nous avons fait? C’etait un indroit, d’invaser justement ce pauvre pays,qui n’a rien fait. Pensez á notre roi! C’est héroique de quitter son pays seulement pour son peuple. Et de ces raisons, nous sommes toujour jusqu’à la mort les ennemis des Allemands! Vous êtes mairé, vouz avez un fils de trois mois, j’espère que vous retourniez, mains vous verrez que l’Allemagne sera vaincue. Cette guerre n’est pas la dernière, la revanche reviendra.”
Sie war trotz ihrer Anteilnahme und trotz ihrer vorsichtig gewählten Worte eine fanatische Belgierin. Ich habe ihr vieles widerlegt, aber der Kampf gegen den Haß ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Sie bat mich wegen ihrer Rede um Verzeihung, aber das Los ihres Bruders ließe ihr keine Ruh. Ich wollte ihr nicht nahe treten, ich habe ihr von daheim erzählt und vom schönen Thüringen und meinem Hessenland. Vielleicht glaubt sie jetzt nicht mehr, daß wir solche Barbaren [S. 105] sind. Armes Mädchen, wie wund mag's in deinem Innern aussehen.
Oberleutnant D. bat mich, wegen der Bevölkerung die Türen zu verrammeln. Ich schließe nicht ab. Und auch meinen Dolch lasse ich trotz seiner Bitte in meinem Stiefel stecken. Es sind sicher gute, feine Leute, doch weidwund wie arme Tiere.

Der Morgen des 14. März [1915] ist so schön wie der vorhergehende Tag. Ich habe bis ½ 9 Uhr in den Federn gelegen. An einen Abmarsch an die Front ist noch nicht zu denken, wir werden immer noch in Reserve gehalten. Wieder gilt dieser schöne Morgen der schönen Stadt mit ihren herrlichen Anlagen. Ich bummele an der Schelde entlang. Die Dampfer pfeifen, und die Ketten der Brücken, die durch sie gehoben und gesenkt werden, rasseln ohn' Unterlaß. Rechts biegt die Hauptstraße zum Bahnhof ab, der ich folge. Wahrlich, trotz des Krieges, der hier so nahe bei der Stadt tobt, wird hier ein Kleiderluxus getrieben, der mich in Erstaunen setzt. Bis zum Knie geschlitzte Röcke, Lackschuh, elegante Hüte. — Die Kämpfe, die hier im August vorigen Jahres ausgefochten sind, sind längst vergessen.
Aber in stärkerem Maße findet man neben diesem Luxus die bittere Armut oder besser den Straßenbettel. Solche Zustände sind in unserm alten Vaterlande völlig undenkbar. An jeder Straßenecke betteln einen verkommene Kinder, die Zigarette im Munde, um Geld und Zigaretten an. Oft waren sie zu viert im Alter von 6 bis herunter zu einem Jahre, und immer umlagerten sie gerade die deutschen Soldaten, die, wie ich, leider nur zu oft von ihren wenigen Pfennigen abgeben. Ich habe mich erkundigt, der Bettel soll im Frieden wie im Krieg gleich sein.
Am selben Tage erreichte mich abends noch eine wichtige Nachricht: wir sollten am nächsten Tage nach St. Amand in Frankreich, südwestlich Lille, aufbrechen.


Personen: Fischmann, Wilhelm
Orte: Tournai · Thüringen · Schelde · Saint-Amand · Lille
Sachbegriffe: Belgier · Mode · Oberleutnante · Dolche · Brücken · Dampfschiffe · Bettelei · Armut · Zigaretten · Zivilbevölkerung · Westfront
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 3: Aufenthalt in Tournai, Kontakt mit der Bevölkerung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/164-3> (aufgerufen am 28.04.2024)