Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Heinrich Höhle, Kriegstagebuch eines Lehrers aus Landau, 1914-1919

Abschnitt 6: Besichtigung des Kriegsgegangenenlagers Niederzwehren

[17] Mittwoch, den 30. Dez. 14. Wir sind in Niederzwehren bei Kassel u. sehen uns das dortige große Gefangenenlager an. Auf einem weiten Raum hinter einem Drahtzaun sind viele Baracken errichtet. Wir können die Gefangenen beobachten, wie sie zum Essenholen laufen.

Alles durcheinander: Russen, Engländer, Franzosen, Turkos, Schotten. Eine Abteilung Russen u. Franzosen marschiert an uns vorbei in einen Steinbruch, wo sie arbeiten. Jetzt verzehren sie ihr eben geholtes Mittagsessen; ich stelle dem Geruch nach fest: Kohlraben. Von weitem leuchten die roten Hosen u. Käppchen der Franzosen. Die Kleidung der Russen ist grau-grün. Sie paßt sich vorzüglich der Landschaft an. Von weitem ist der Russe im Gelände kaum zu sehen. Das Arbeitskommando läßt einen Teil Russen antreten. Ein aller Russe mit Vollbart hüpft von einem Bein auf das andere wie ein tanzender Bär. Dabei bläst er in seine Hände. Es ist offenbar, er friert u. möchte sich warme Füße und Hände verschaffen. Mir tut der Mann leid, weil ich an unsere Männer u. Väter denke, wenn sie auch so frieren müssen. Auch schwebt mir das Bild meines lieben so früh verstorbenen Vaters vor. Wenn der auch so frieren müßte. Mir tut das Herz weh. Daß Männer durch einen furchtbaren Krieg so aus ihrer Heimat herausgerissen werden müssen! Fluch dem Urheber dieses Deutschland u. Östreich aufgezwungenen Krieges!

Jetzt kommen in langem Zug die Gefangenen mit ¼ mit Steinen gefüllten Schiebekarren vorbei. Das ist keine schwere Last, zumal noch 1 Mann am Karren vorn zieht. Die Franzosen sehen bis auf einige schwache frisch u. blühend aus. Die Russen sehen hungrig aus. Sie machen den Eindruck, als hätten sie in Rußland Not gelitten.

Die deutschen Wachsoldaten erzählen, daß die Russen gar nicht satt werden. Um Geld zu erlangen, haben sie ihre Stiefel oft an Franzosen verkauft. Ihre Füße haben sie teilweise mit Tüchern umwickelt. Einzelne tragen Holzschuhe, die ihnen von unserer Verwaltung überwiesen sind. Ein Franzose kommt gerade u. sagt: „malade". Das soll heißen krank. Fürsorglich bringen ihn unsere Landsturmleute in ein warmes Plätzchen im Schuppen. Wir sehen, die Gefangenen werden gut behandelt u. können sich nicht beschweren über deutsche Barbarei. Hätten es die deutschen Gefangenen nur auch so gut bei unsern Feinden!

Im März u. April 1915 kam eine furchtbare Geißel über das Lager. Durch die unsaubern u. verlausten Russen war der Flecktyphus eingeschleppt worden, woran täglich 5-10 Gefangene starben mit hohem Fieber, das ihnen die Besinnung raubte. Auch unsere Landsturmleute von der Wache erkrankten, u. einige starben, desgleichen deutsche Ärzte, die sich alle Mühe geben, die Krankheit einzudämmen, was dann im Mai auch geschah. Übertragen wird die Krankheit durch Läuse.


Personen: Höhle, Heinrich
Orte: Landau · Kassel · Niederzwehren · Österreich
Sachbegriffe: Kriegsgefangene · Krieggefangenenlager · Baracken · Russen · Engländer · Franzosen · Turkos · Schotten · Landsturm · Flecktyphus · Ärzte · Epidemien
Empfohlene Zitierweise: „Heinrich Höhle, Kriegstagebuch eines Lehrers aus Landau, 1914-1919, Abschnitt 6: Besichtigung des Kriegsgegangenenlagers Niederzwehren“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/15-6> (aufgerufen am 25.04.2024)