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Synagogen in Hessen

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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 50. Rosenthal
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Gemünden (Wohra) Karten-Symbol

Gemeinde Gemünden (Wohra), Landkreis Waldeck-Frankenberg — Von Horst Hecker
Basisdaten | Geschichte | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | Nachweise | Indizes | Empfohlene Zitierweise
Basisdaten

Juden belegt seit

1537

Lage

35285 Gemünden, Untergasse 27 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen (Marburg)

erhalten

nein

Jahr des Verlusts

1938

Art des Verlusts

Zerstörung

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historisches Ortslexikon

Geschichte

Seit mindestens 1537 waren Juden in Gemünden ansässig.1 Während der frühen Neuzeit schwankte die Zahl der Schutzjuden zwischen drei und vier. 1772 wird ein Rabbiner (Salomon Abraham) in Gemünden erwähnt.2 Im Jahr 1860 lebten in Gemünden zehn jüdische Familien mit zusammen 66 Personen.3 Sie handelten vorwiegend mit Vieh, Spezerei- und Ellenwaren, daneben auch mit Pottasche, Teer, Unschlitt und Brennerware. 1895 zählte die jüdische Gemeinde in Gemünden 71 Köpfe (5,5 Prozent der Gesamteinwohnerschaft), 1925 noch 60.4

Die israelitische Synagogen- bzw. Kultusgemeinde Gemünden, zu der auch die Juden in Grüsen, Dodenhausen und Schiffelbach gehörten, zählte zum Rabbinatsbezirk Oberhessen mit Sitz in Marburg. Die jüdischen Standesregister sind seit 1759 erhalten.5

Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ lebten in Gemünden noch 59 jüdische Einwohner.6 Die meisten zogen nach 1933 fort; 1939 waren es noch 11 Personen. Die letzten in Gemünden verbliebenen Juden (zwei Personen) wurden Anfang September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Wie viele Gemündener Juden in der Schoah umkamen, ist unbekannt, wir müssen aber von mindestens 37 Opfern ausgehen.7 Diejenigen, die rechtzeitig auswandern konnten, emigrierten nach Südamerika (Argentinien), Palästina, England und in die USA.

Die bekannteste jüdische Familie in Gemünden war die Familie Andorn, der mehrere bedeutende Pädagogen und ein Rabbiner entstammten.8

Betsaal / Synagoge

Über die Synagoge in Gemünden liegen nur wenige Nachrichten vor, die auch nicht vor 1823 zurückreichen. In diesem Jahr erbaute die jüdische Gemeinde auf einem Platz in der Untergasse, welcher 1818 durch einen Brand freigeworden war und der ihr auf ihren Antrag von der Stadt zugewiesen worden war, einen Tempel. Vermutlich handelte es sich um das erste zu diesem Zweck errichtete Gebäude, vorher fand der jüdische Gottesdienst wahrscheinlich in einem Privathaus statt.

Leider existieren keine bildlichen Darstellungen von der Gemündener Synagoge. Nach Auskunft des Brandversicherungskatasters hatte das Gebäude, das sich mitten in der Stadt befand, eine Länge von 7,9 Metern und eine Breite von 6,7 Metern.9 Zeitzeugen beschreiben es als einen freistehenden, zweistöckigen Fachwerkbau auf einem Sandsteinsockel, dessen Wetterseite mit Blech beschlagen war.10 Ein im Jahre 1876 von dem damaligen Gemeindeältesten Anselm Höxter aufgestelltes Inventarverzeichnis11 zählt folgende Gegenstände auf: ein in der Wand angebrachter Schrank zum Aufbewahren der Thorarollen (heilige Lade, Thoraschrein), ein aufklappbarer (Kult-)Tisch (Schulchan) zum Auflegen und Entfalten der Thora (zugleich diente er als Betpult für den Vorsänger), 13 Bänke mit abgeteilten Sitzen und ebenso vielen Stehpulten, Bänke und Galerie in der Frauensynagoge im Obergeschoss, zwei Kronleuchter aus Bronze, ein größerer und ein kleinerer, zwei Ständer zum Aufstecken von Lichtern vor dem Betpult des Vorsängers, ferner acht Thorarollen mit dazugehörigen Überzügen, drei Vorhänge (Parochet) vor der heiligen Lade, vier Decken über dem Schulchan, zwei Gebetbücher (Machsorim) mit der Liturgie u.a. zum Pessach und zum Laubhüttenfest, ein Band Bußgebete (Selichot), ein Band mit Klagegebeten und Klageliedern zum Gebrauch am 9. Tag des Monats Aw, dem Trauertag wegen der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. und des Tempels durch die Römer 70 n. Chr., ein Gebetbuch (Tefilla) mit Gebeten für das ganze Jahr, ein Rahmen mit dem Gebet für den Kaiser, ein silbervergoldetes Schild (Tass) zum Anhängen an die Thorarollen und ein silberner Zeigestab (Jad) als Lesehilfe für den Vorbeter beim Vorlesen aus der Thora, sodann ein silberner Becher (Kiddushbecher) zum Weihegebet (Kiddush) für die Eingangsfeier beim Sabbat und an den Festtagen, eine silberne Gewürzbüchse (Bessonimbüchse) für die Schlusszeremonie (Hawdala) am Sabbat, eine Schriftrolle (Megilla) aus Pergament, enthaltend das Buch Esther zum Vorlesen am Purimfest und schließlich ein Schofarhorn zum Blasen am Neujahrsfest.

In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge geschändet und total verwüstet. Was von dem Gebäude noch übrig war, wurde zwei Tage später abgebrochen, die Reste wurden vor der Stadt verbrannt. Zurück blieb eine Baulücke, die bis heute wie eine offene Wunde im Stadtbild wirkt.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Im Jahr 1825 gab es in Gemünden zwei Judenbäder. Damals hatte Moses Sinzheimer in seinem Gartenhaus ein „kaltes Bad“ eingerichtet, in dem seine Ehefrau badete. Die übrigen Gemündener Judenfrauen sowie jene aus Grüsen, Dodenhausen und Schiffelbach bedienten sich dagegen des Bades in dem Haus von Emanuel Marx. Dieses befand sich in einer an die Küche stoßenden Kammer im Erdgeschoss und wurde mit Brunnenwasser gespeist, das in einem großen kupfernen Kessel in der Küche erhitzt wurde. Durch eine Rinne lief das warme Wasser anschließend zurück in den Badebrunnen.12 Ende des 19. Jahrhunderts verfügte die israelitische Gemeinde über ein eigenes Badehaus am heutigen Untertor 3. Nach Angabe des Brandversicherungskatasters war es 5,8 Meter lang, 4,7 Meter breit und besaß zwei Stockwerke.13

Schule

Vor 1830 waren in Gemünden nur temporär angestellte, mit einem Toleranzschein versehene jüdische Privatreligionslehrer beschäftigt. Im November 1833 wurde der damalige Inhaber der Stelle von der Regierung in Marburg zum Religionslehrer auf Lebenszeit bestellt. Daraus entwickelte sich dann in der Folgezeit eine israelitische Elementarschule, die auch von den jüdischen Kindern in Grüsen, Dodenhausen und Schiffelbach besucht wurde. 1887 hatte die Schule 40 Schüler. Im Jahr 1889 erwarb die Synagogengemeinde das ehemalige Forsthaus am Aumühlsweg und baute es zum Schulhaus um. 1903 wurde ein Anbau erstellt und der bisherige Schulsaal zu Wohnräumen umgebaut. Zum 1. August 1933 erfolgte die Auflösung der israelitischen Volksschule in Gemünden, die noch verbliebenen Kinder und der jüdische Lehrer wechselten, bis zu ihrem völligen Ausschluss vom Unterricht, zwangsweise in die städtische Volksschule.

Friedhof

Bis 1828 bestatteten die Gemündener Juden ihre Verstorbenen auf dem jüdischen Sammelfriedhof in Hatzbach. Auf Initiative des Vorsteheramts in Marburg wurde im Sommer 1828 in einem der Stadt Gemünden gehörenden Grasgarten, ca. 1,5 Kilometer von der Stadt entfernt, am Weg nach Rosenthal im sogenannten Gatzbach, ein eigener Friedhof für die Synagogengemeinden Gemünden und Rosenthal angelegt. 1895 erfolgte eine Erweiterung des ursprünglich 9,4 Ar großen Areals um 10,74 Ar. Im Zuge der „Arisierung“ der jüdischen Friedhöfe wurde der Friedhof in Gemünden im Februar 1941 geschlossen. Die letzte Beerdigung fand 1939 statt. Von Zerstörungen blieb der Friedhof während der Nazizeit weitgehend verschont.

Hatzbach, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Gemünden (Wohra), Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Nachweise

Weblinks

Quellen

Literatur

Abbildungen

Indizes

Personen

Salomon Abraham · Andorn, Familie · Höxter, Anselm · Sinzheimer, Moses · Marx, Emanuel

Orte

Grüsen · Dodenhausen · Schiffelbach · Südamerika · Argentinien · Palästina · England · USA · Hatzbach · Rosenthal

Sachbegriffe Geschichte

Schutzjuden · Theresienstadt, Ghetto · Shoah · Pogromnacht

Sachbegriffe Ausstattung

Schränke · Thorarollen · Heilige Lade · Thoraschreine · Schulchan · Betpulte · Stehpulte · Kronleuchter · Vorhänge · Parochet · Decken · Gebetbücher · Machsorim · Selichot · Tefilla · Schilde · Zeigestäbe · Jad · Kiddusch-Becher · Gewürzbüchsen · Besamimbüchsen · Megillot · Schofarot

Sachbegriffe Architektur

Fachwerkbauten · Sandsteinsockel

Fußnoten
  1. Löwenstein, Quellen, S. 313, Nr. 1128 a
  2. LWV-Archiv, Best. 13, Geldrechnung 1772
  3. HStAM H 3, 59
  4. Gemeindelexikon für den Freistaat Preußen
  5. HHStAW 365, 351 und 354
  6. HStAM 180 Frankenberg, 153
  7. Gedenkbuch des Bundesarchivs (s. Weblink)
  8. Völker, Gemünden war ihre „kleine jüdische Welt“
  9. HStAM 224, 178
  10. Jacobi/Münzer, Kulturhistorischer Rundgang Gemünden, S. 27
  11. HStAM 180 Frankenberg, 1384
  12. HStAM 19, h 608: Bericht des Kreisphysikus Dr. Hartwig vom 28. August 1825
  13. HStAM 224, 178
Empfohlene Zitierweise
„Gemünden (Wohra) (Landkreis Waldeck-Frankenberg)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/syn/id/533> (Stand: 22.7.2022)