Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Contemporary History in Hessen - Data · Facts · Backgrounds

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Gesamtschule

  1. Überblick
  2. Schulformbezogene (kooperative) Gesamtschule (KGS)
  3. Integrierte Gesamtschule (IGS)
  4. Entstehung der Gesamtschulen in Hessen
  5. Landschulreform und Hessenplan
  6. Schuldorf Bergstraße

1. Überblick

Unter dem Begriff der Gesamtschule wird in Deutschland eine bestimmte Form der weiterführenden Schule verstanden, die Schülerinnen und Schülern nach Besuch der Grundschule (1. bis 4. Klasse) als Alternative zum traditionellen dreigliedrigen Schulsystem (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) offensteht und bei der an die Stelle der fächerübergreifenden Differenzierung nach Schulformen eine fachspezifische Leistungsdifferenzierung tritt.1 Gesamtschulen können in Hessen schulformbezogen (kooperativ) oder schulformübergreifend (integriert) gegliedert sein.

2. Schulformbezogene (kooperative) Gesamtschule (KGS)

In der schulformbezogenen (kooperativen) Gesamtschule (KGS) sind die Bildungsgänge der Hauptschule und der Realschule sowie die Mittelstufe (Sekundarstufe I) des gymnasialen Bildungsganges pädagogisch und organisatorisch in einer Schule verbunden und werden als getrennte, aber aufeinander bezogene Schulzweige geführt. In Hessen beginnen die kooperativen Gesamtschulen ihr Angebot i. d. R. mit einer Förderstufe in der 5. und 6. Klasse, die im Fach Sport und im Lernbereich Ästhetik (Bildende Kunst, Musik, Theater) schulzweigübergreifenden Unterricht anbietet. Im Unterschied zur Integrierten Gesamtschule werden die Schüler zwar unter einem Dach unterrichtet (organisatorische Einheit), die KGS bleiben aber grundsätzlich der schulzweigbezogenen Dreigliedrigkeit der Ausbildungsgänge verhaftet, die in Haupt-, Real- und Gymnasialklassen differenziert (Unterricht in schulzweigspezifischen Klassenverbänden). In Hessen existierten während des Schuljahres 2004/2005 insgesamt 131 öffentliche Gesamtschulen, die in ihrem Angebot das schulformbezogene (kooperative) Modell umsetzten.

3. Integrierte Gesamtschule (IGS)

In der Integrierten Gesamtschule (IGS) nehmen die Schülerinnen und Schüler der Klassen 5. bis 10. mit unterschiedlichen Empfehlungen für die Hauptschule, die Realschule oder das Gymnasium in mehreren Fächern an einem gemeinsamen Unterricht teil (gemeinsame Kerngruppen und Klassenverbände) und werden nach einem gemeinsamen Lehrplan unterrichtet. Dabei verzichtet aber auch die IGS nicht auf eine Fachleistungsdifferenzierung, die sich für bestimmte Schulfächer in der Einrichtung von Fachleistungskursen ausdrückt. Vielfach werden dabei die Fachleistungskurse auf drei Anspruchsebenen (z. B. „A“ für den gymnasialen, „B“ für den Realschul- und „C“ für den Hauptschul-Anspruch) ab der 7. Jahrgangsstufe für die Fächer Mathematik und Englisch und später auch für Deutsch und die Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) differenziert. In Hessen arbeiteten während des Schuljahres 2004/2005 insgesamt 78 öffentliche Gesamtschulen nach diesem Prinzip.

4. Entstehung der Gesamtschulen in Hessen

Die Einrichtung der ersten Gesamtschulen in Hessen ging auf das Programm der Landschulreform zurück, die mit der Schaffung sogen. Mittelpunktschulen einerseits die flächendeckende Schulversorgung zum Ziel hatte, andererseits aber auch einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Bildungschancen aller Volksschüler leisten sollte.2 Im Hintergrund der Entstehung der Gesamtschule und der Förderstufe in Hessen als integrierte Systeme im Bildungswesen stand die mangelnde Bereitschaft der deutschen Nachkriegsgesellschaft, das aus der Vorkriegszeit überkommene Schulsystem einer grundsätzlichen Neuausrichtung zu unterwerfen.

Nahtlos an die in der Weimarer Republik geschaffenen Rahmenbedingungen anknüpfend, war man überwiegend den Weg einer Restauration des traditionellen gegliederten Schulwesens gegangen, das für die akuten schulpolitischen Erfordernisse der Nachkriegszeit, wie z. B. die Aufnahme zahlreicher Kinder deutscher Flüchtlingsfamilien und den damit in Zusammenhang stehenden Neuaufbau von Gebäuden, eher geeignet erschien, als die bei Kriegsende von den Alliierten, insbesondere von den Amerikanern geforderte radikale Abkehr von der schulformbezogenen Dreigliedrigkeit und die Einrichtung von „Einheitsschulen“ bzw. Gesamtschulen (die „Direktive Nr. 54 der Alliierten Kontrollratbehörde in Deutschland“ stellte diesbezüglich den letzte Versuch der Besatzungsmächte dar, eine deutschlandweit einheitliche Regelung durchzusetzen). Langfristig sollte sich dies jedoch als hochproblematisch erweisen, was spätestens mit der von Georg Picht in der evangelischen Wochenzeitung Christ und Welt veröffentlichten Artikelserie zur deutschen „Bildungskatastrophe“ auch im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit verankert wurde.

Die Chance einer umfassenden Schulreform im Zuge der Neugründung der Bundesrepublik wurde nicht genutzt. Bereits im 19. Jahrhundert hatten die frühen Entwürfe zur Verwirklichung einer Gesamtschule den entschiedenen Widerspruch konservativer Kräfte herausgefordert.

5. Landschulreform und Hessenplan

Die auf Bundesebene angestoßene schulpolitische Diskussion zur Reform des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens (ausgehend von den 1959 im „Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des Allgemeinbildenden Öffentlichen Schulwesens“ des Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen veröffentlichten Empfehlungen, die ausdrücklich eine Orientierung an den hessischen Förderstufenversuchen guthießen), die in Hessen als „Landschulreform“ mit der Verabschiedung des Schulverwaltungsgesetzes von 1961 ihre Entsprechung fand, führte zur Errichtung von Mittelpunktschulen, die nicht nur erstmals flächendeckend den Zugang zu mehrzügig gegliederten Bildungseinrichtungen und dem Abschluss der Realschule schufen, sondern auch zum strukturellen und programmatischen Ausgangspunkt der Einrichtung von Gesamtschulen wurden. Vorrangig stand hinter dem Landschulreform-Programm die Absicht, das „Bildungsgefälle“ zwischen Stadt und Land zu verringern.3

Organisatorisch fassten die Mittelpunktschulen als schulisches Zentrum eines aus mehreren Gemeinden gebildeten Schulverbandes die vorher existierenden örtlichen Volksschulen (Hauptschulen) zusammen und erweiterten das Schulangebot um mindestens einen Realschulzug sowie um den Aufbau von Förderstufen, um mehr Kinder für weiterführende Schulangebote zu gewinnen. Das Programm zur Landschulreform wurde ab 1965 in den von Ministerpräsident Zinn initiierten „Großen Hessenplan“ integriert, mit dem ein Vielfaches der für den Bau von Mittelpunktschulen vorgesehenen Mittel zur Verfügung gestellt werden konnte (1965 26,7 Millionen, 1966 99,0 Millionen und 1967 noch einmal 98,0 Millionen DM). Ab 1965 etablierte sich der Ausdruck „Gesamtschule“ auch in Texten des Hessischen Kultusministeriums, das den Begriff auf die Tradition des hessischen Modells der Mittelpunktschulen bezog, die als über-lokale und regionale Schulzentren alle Schulformen der Mittelstufe und die Sonderschule unter einem Dach vereinten.

Erste schulformbezogene Gesamtschulen existierten in Hessen seit 1954 mit dem Schuldorf Bergstraße, seit 1956 in Kirchhain (Alfred-Wegener-Schule), 1957 in Wolfhagen (Wilhelm-Filchner-Schule) und 1963 in Frankfurt am Main (Nordweststadtschule; heute: Ernst-Reuter-Schule I und II) .4 Der Terminus „Gesamtschule“ fand in Hessen erstmals Verwendung für die 1956 in Kirchhain errichtete Alfred-Wegener-Schule. Zunächst bestanden in Hessen ausschließlich kooperative Gesamtschulen, bis Ende 1969 vier dieser schulformbezogenen Einrichtungen in die ersten schulformunabhängigen (integrierten) Gesamtschulen umgewandelt wurden, darunter auch die 1968 in Ernst-Reuter-Schule umbenannte ehemalige Nordweststadtschule in Frankfurt-Niederursel.5

6. Schuldorf Bergstraße

Das nach dem Vorbild der amerikanischen Community Schools errichtete Schuldorf Bergstraße in Seeheim-Jugenheim ist gleichzeitig die älteste Gesamtschule Deutschlands und entstand direkt auf Anregung des kultur- und schulpolitischen Beraters der obersten US-Besatzungsbehörde, Kenneth A. Bateman, und des Leiters der US-Erziehungsabteilung, Dr. Leroy Vogel. Die Finanzierung erfolgte mit Hilfe von Geldern aus dem 1950 angelaufenen Special Projects Program (SPP, bekannt auch unter der Bezeichnung „McCloy-Fonds“ oder „McCloy-Spende“), das ursprünglich die Verbesserung der Lebensumstände deutscher Studenten zum Ziel hatte, und mit dem schließlich schätzungsweise 500 Projekte „in education, youth and community activities, and public health and welfare“ in Westdeutschland realisiert werden konnten.6

Im Schuldorf Bergstraße wurde 1955 versuchsweise auch die erste Förderstufe des Landes eingerichtet, 1961 arbeiteten insgesamt 12 hessische Schulen versuchsweise mit dieser Organisationsform. 1969 wurde die ursprünglich bereits vom hessischen Kultusminister Erwin Stein (1903–1992; wirkte von 1947 bis 1951 als Kultusminister des Landes Hessen) als „Verlängerung“ der Grundschule (mit fachspezifischer Leistungsdifferenzierung in den Jahrgangsstufen 5 und 6) befürwortete Förderstufe als Angebot der Regelschule eingeführt.

Kai Umbach


  1. Vgl. Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission (hrsg. Körperschaft): Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen: verabschiedet auf der 19. Sitzung der Bildungskommission am 30./31. Januar 1969 (Empfehlungen der Bildungskommission / Deutscher Bildungsrat; 19), [Bonn] 1969.
  2. Zu den Zielen der Landschulreform in Hessen vgl. ausführlich: Landesschulbeirat für Hessen / Ausschuss für Landschulen (Hg.): Landschulreform: Bericht des Ausschusses für Landschulen (Hessische Beiträge zur Schulreform: Reihe 3, Beiträge des Landesschulbeirats 30), Wiesbaden 1952.
  3. Vgl. Dörger, Ursula (Hg.): Integrierte Gesamtschule in Hessen : eine Bestandsaufnahme / Hessisches Landesinstitut für Pädagogik (HeLP), Wiesbaden (Materialien zur Schulentwicklung 30), 2., überarb. Aufl.´, Wiesbaden 1999, Auszug online S. 9–15 (Text aktualisiert auf Stand Februar 2001): URL: http://www.ggg-bund.de/index.php/gesamtschulentwicklung/282-entwicklung-der-integrierten-gesamtschulen-in-hessen (abgerufen am 07.12.2014).
  4. Vgl. Dörger, Ursula / Hessisches Kultusministerium: Daten und Schwerpunkte der hessischen Gesamtschulgeschichte, Wiebaden 2007], Online-Ressource als PDF-Dokument, URL: http://dms-schule.bildung.hessen.de/igs/information/igs-daten_geschichte.pdf, S. 1 (eingesehen am 07.12.2014). Einen Situationsbericht zu den genannten Schulen aus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre bietet: Beckert, Peter: Reiches Bildungsangebot verstärkt die Nachfrage – Bericht über vier „Gesamtschulen“ in Hessen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.03.1967, S. 59.
  5. Die drei anderen Modellschulen zur Erprobung der integrierten Gesamtschulform nach Berliner Vorbild waren die Gesamtschule Babenhausen, Theodor Heuss-Schule in Baunatal und die Wilhelm Leuschner-Schule in Mainz-Kastel.
  6. Vgl. Weyer, Johannes: Westdeutsche Soziologie 1945-1960: Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß (Soziologische Schriften; Bd. 41), Berlin 1984, S. 356.
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  1. Hessischer Kultusminister Ludwig von Friedeburg legt sein Amt nieder, 4. Dezember 1974
  2. Klage der CDU-Landtagsfraktion gegen das Förderstufen-Abschlussgesetz, 28. Februar 1986
  3. Bundesverfassungsgericht verwirft Klage hessischer Kommunen und Kreise gegen Förderstufen-Abschlussgesetz, 25. September 1986