Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Contemporary History in Hessen - Data · Facts · Backgrounds

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Fulda Gap

  1. Überblick
  2. Ziviler Widerstand gegen die Aufrüstung im „Fulda Gap“
  3. Der Atomkrieg in Osthessen als „strategisches Brettspiel“ 1977
  4. NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung

1. Überblick

Ausgehend von seiner geografischen Lage und naturräumlichen Beschaffenheit, erlangten Teile von Hessen mit Beginn des politischen Ost-West-Gegensatzes im „Kalten Krieg“ wichtige militärstrategische Bedeutung. Als ein zentrales Einfalltor der Panzertruppen des Warschauer Pakts gab die Fuldaer Senke des Osthessischen Berglandes, die im amerikanischen Militär-Sprachgebrauch kurz als „Fulda Gap“ bezeichnet wurde, den Weg frei für einen schnellen Vorstoß in Richtung Frankfurt am Main, um Westdeutschland an seiner schmalsten Stelle zu durchschneiden, ein zentrales Logistikzentrum der US-Streitkräfte auszuschalten, die Verteidigung des nord- und des süddeutschen Raumes voneinander zu trennen und die von Bremerhaven aus südwärts verlaufenden amerikanischen Nachschubwege abzuschneiden. Hier erschien das militärische Kräftemessen an der innerdeutschen Grenze besonders bedrohlich. Die NATO plante, den Angriff der Truppen des Warschauer Pakts in Osthessen mit einem atomaren Erstschlag zu beantworten.

Die Grenzlage Hessens, seine räumliche Mittelstellung zwischen Nord und Süd, das Vorhandensein strategisch bedeutender militärisch-infrastruktureller Einrichtungen (Rhein-Main Air Base auf dem Flughafen Frankfurt) und das als „Nadelöhr“ für den Vormarsch sowjetischer Panzertruppen fungierende „Fulda Gap“ sorgten dafür, dass das Land für lange Zeit die höchste Stationierungsdichte und den höchsten Anteil befreundeter ausländischer Streitkräfte aufwies. Entsprechend den strategischen Planungen der NATO, verdichtete sich im Gebiet des „Fulda Gap“ über Jahrzehnte hinweg die Militärpräsenz v. a. des amerikanischen Bündnispartners.1

Im Falle einer militärischen Auseinandersetzung zwischen der NATO und den Staaten des Warschauer Pakts wären die im „Fulda Gap“ lebenden Menschen unmittelbar von katastrophalen Zerstörungen betroffen gewesen. Das sogenannte „Zebra Paket“ sah dort im Falle eines Angriffs den Einsatz von Atomwaffen gegen festgelegte Zielpunkte vor. Diese sollten in Form eines „Sperrfeuers“ innerhalb von 90 Minuten insgesamt 114 Objekte im „Fulda Gap“ (darunter - flächendeckend – allein rund 50 Ziele im Dreieck Bad Hersfeld – Alsfeld – Fulda) und weitere 27 im Kinzigtal treffen. Die kleine Ortschaft Hattenbach im Landkreis Hersfeld-Rotenburg wurde in den Planspielen des US-Militärs als derjenige Ort gesehen, der bei einer Verteidigung vom westlichen Militär zuerst bombardiert werden würde, um einen Vormarsch der Truppen des Warschauer Pakts aufzuhalten.

Der Begriff „Fulda Gap“ steht bis heute als Synonym für die militärische Bedrohung an der osthessischen Grenze und das Schreckensszenario eines möglicherweise nuklear beantworteten Einmarsches der Truppen des Warschauer Pakts.

2. Ziviler Widerstand gegen die Aufrüstung im „Fulda Gap“

Die Fortsetzung des „Kalten Kriegs“ zwischen Ost und West wurde zu einem bestimmenden gesellschaftspolitischen Thema der 1980er-Jahre. Hunderttausende unterstützten zu Beginn des Jahrzehnts die Forderungen der Friedensbewegung. Ihr Protest richtete sich gegen die Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen und eine wachsenden Kriegsgefahr in Europa. In Fulda kam es am 29. September 1984 zu einer friedlichen Großdemonstration, an der sich etwa 30.000 Anhänger der Friedensbewegung beteiligten.

Aufsehen erregte eine in den Nächten vom 9. bis zum 12. Dezember 1983 durchgeführte Aktion unbekannter Pazifisten. Sie schütteten rund 200 militärische Sprengschächte auf Straßen und Brücken in Osthessen mit Beton zu und machen sie damit unbrauchbar. Das Ziel des Sabotageakts, überdeckelte vier bis sechs Meter tiefe Sprengkammern von etwa 60 Zentimeter Durchmesser, die äußerlich kaum von herkömmlichen Kanaldeckeln zu unterscheiden waren, wurden im Bereich der „Fulda Gap“ äußerst zahlreich in der Straßenverkehrsinfrastruktur verbaut, um im Verteidigungsfall eigens dafür vorgesehene Sprengladungen aufzunehmen. Ihr Zweck war die Schaffung einer Sperre, um den Vormarsch der auf das Gebiet der Bundesrepublik vordringenden Warschauer Pakt-Truppen zu behindern. Das Vorgehen der im linksradikal-autonomen Umfeld vermuteten Täter wies auf historische Vorbilder zurück: bereits 1955 und 1956 hatten bei Krefeld und Neuss ähnliche Aktionen stattgefunden, bei denen ganz offen im Beisein von Pressefotografen Sprengschächte der NATO zugeschüttet oder mit Spitzhacken zerstört wurden. Brisant war in diesem Zusammenhang, dass die im Bereich des „Fulda Gap“ gelegenen Sprengschächte im Rahmen des taktischen NATO-Konzepts „Barrior And Denial Plan“ („Sperr- und Verwehr-Plan“) falls erforderlich statt mit konventioneller auch mit atomarer Munition befüllt werden können. In Hessen und der ganzen Bundesrepublik lagerten zu diesem Zweck etwa 300 bis 350 sogen. „Atomminen“, die an den ausgewählten Punkten installiert und fern- bzw. zeitgezündet werden sollten. Die Aktion fand großen Widerhall bei zahlreichen hessischen Friedensinitiativen.

3. Der Atomkrieg in Osthessen als „strategisches Brettspiel“ 1977

Ausgesprochen makaberen Charakter hatte das 1977 von der amerikanische Firma Simulations Publications, Incorporated (SPI) in den USA veröffentlichte Strategie-Brettspiel "Fulda Gap - The first battle of the next war". Nach Angaben des Herstellers bot das von James F. Dunnigan konzipierte Spiel eine "wirklichkeitsgetreue Nachahmung der Kriegsführung im modernen Europa auf der Stufe von Regimentern und Brigaden". Dabei wurde im Spielablauf ein Angriff der Warschauer Pakt-Staaten im süddeutschen Raum simuliert, dessen erste Attacke gemäß den Überlegungen der militärischen Planung des westlichen Verteidigungsbündnisses im osthessischen Fulda eine Bresche ("Gap") in die NATO-Verteidigung schlagen würde. Der Verpackungsdeckel der Originalausgabe des Spiels trug die Aufschrift: “If war ever again comes to Europe, the major Soviet thrust must be aimed at the powerful US forces guarding southern Germany. In order to breach the NATO defenses and break through into the heart of Europe, the armored columns of the Warsaw Pact must force their way through the Fulda Gap – The First Battle of the Next War”.

Das Spiel wurde zu Beginn der 1980er-Jahre auch in Großbritannien, niemals jedoch in Deutschland offiziell vertrieben. Trotzdem gelangte es 1982 nach Adaption durch die Friedensbewegung auch hierzulande zu leidlicher Bekanntheit. Mit einer Altersempfehlung ab 12 Jahren versehen, bestand das Spielset aus einem Spielanleitungsplan, einer Hessenkarte und 400 Spielmarken zur Darstellung nuklearer Angriffe. Spieltechnisch wurde es – von Seiten des Herstellers – als anspruchsvoll bewertet: die Firma SPI vermarktete "Fulda Gap" mit einem Schwierigkeitsgrad von "7,0". Im Vergleich erreichte das Brettspiel Monopoly, so behauptete SPI, demgegenüber nur einen Schwierigkeitsgrad von "2,34“. Angeblich war das strategische Brettspiel von derart realitätsgetreuer Machart, dass es auch innerhalb des US-Miliärs empfohlen wurde, um sich mit der strategischen Situation eines sowjetischen Angriffs in Osthessen vertraut zu machen.2

4. NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung

Zu Beginn der 1980er-Jahre erhielt die seit Mitte des vorangegangenen Jahrzehnts erstarkende Friedensbewegung angesichts der drohenden Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen und einer wachsenden Kriegsgefahr in Europa Zulauf von Hunderttausenden. Ihr Protest richtete sich gegen die Folgen des sogen. NATO-Doppelbeschlusses, der im Dezember 1979 als Reaktion auf die von der Sowjetunion durchgeführte Modernisierung ihrer auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen gefasst worden war. Mit dem Beschluss bot man der Sowjetunion und dem von ihr geführten Warschauer Pakt eine beiderseitige Begrenzung dieser Waffen beiderseits des Europa durchlaufenden „Eisernen Vorhangs“ an. Gleichzeitig ließ die Nordatlantische Allianz keinen Zweifel daran, dass sie auf ein Scheitern des Abrüstungsangebots ihrerseits mit der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Westeuropa antworten würde. Damit rückte der Atomkrieg nicht nur für die unmittelbar betroffenen Standorte auf der Schwäbischen Alb oder im Hunsrück in bedrohliche Nähe. Das Szenario einer Aufrüstung mit Atomwaffen kurzer und mittlerer Reichweite, die Mitteleuropa und besonders das geteilte Deutschland zum Hauptschauplatz eines „begrenzten“ Atomkriegs machen würde, erschreckte große Teile der westdeutschen Bevölkerung. Innerhalb kurzer zeit fand die Friedensbewegung massenhaften Zulauf. An den Friedensdemonstrationen beteiligten sich ab Herbst 1981 Hunderttausende. Der bundesweite Aktionstag gegen die „Nachrüstung“ mit Nuklearwaffen am 22. Oktober 1983 zählte bundesweit nicht weniger als 1,3 Millionen Menschen, die sich mit Protesten an den für diesen Tag angesetzten Kundgebungen und Aktionen beteiligten.

Auch in Hessen kam es zu Blockaden amerikanischer Militärdepots durch Nachrüstungsgegner. Ziel der Aktivisten war z. B. im Dezember 1983 ein nahe Frankfurt am Main gelegenes und als "Todesfabrik" und "Pershing-Fabrik" bezeichnetes Gelände der US-Armee, auf dem Atomraketen zusammenmontiert werden sollten.

Kai Umbach


  1. Der auf Hessen entfallenden Verteidigungsabschnitt entlang der innerdeutschen Grenze (Central Front) wurde von Truppen der 7. US-Armee dominiert.
  2. Vgl. Taunus Kurier vom 9. März 1982: „Fünf Stunden bis zum bitteren Ende – Ein Kriegsspiel aus USA mit Signalwirkung“; Fuldaer Zeitung/Hünfelder Zeitung, Nr. 57/1982, vom 9. März, S. 7: „Fulda Gap“ oder Wie man einen Alptraum zum Kinderspiel macht; Schregel, Susanne: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür : eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985 (Historische Politikforschung 19), Frankfurt am Main [u.a.] 2011 (zugl.: Darmstadt, Techn. Univ., Diss., 2010), S. 165.
Keywords
Fulda Gap
Entries
  1. Bundespräsident Lübke besucht Manöver des V. Korps der US-Armee bei Frankfurt und Hanau, 17. Mai 1963
  2. Taktiklehrbuch der US Army sieht den Einsatz taktischer Atomwaffen in Osthessen vor, 6. August 1976
  3. „Fulda Gap“ als strategisches Brettspiel, 1977
  4. Ehemaliger NATO-General veröffentlicht Fiktion über den Ausbruch des „3. Weltkriegs“, Oktober 1978
  5. Der amerikanische Fernsehsender CBS zeigt eine Dokumentation zum geplanten Einsatz von taktischen Atomwaffen im „integrierten Schlachtfeld Osthessen“, 15. Juni 1981
  6. Die Gemeinde Hattenbach im Landkreis Hersfeld-Rotenburg als „Punkt Null“ eines Atomwaffenangriffs im US-Fernsehen, 15. Juni 1981
  7. Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL berichtet über das „Atomziel“ Hattenbach, 1. März 1982
  8. Eine von einem US-Kampfflugzeug abgefeuerte Rakete schlägt in unmittelbarer Nähe eines Wohnhauses in Dalherda ein, 10. August 1982
  9. 200 militärische Sprengschächte auf Straßen und Brücken in Osthessen werden von unbekannten Pazifisten mit Beton zugeschüttet, 9.-12. Dezember 1983