Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Katha Merz, Ein Steinauer Kind erlebt den Ersten Weltkrieg, 1914-1918

Abschnitt 4: Tod des Cousins, Nachkriegszeit, Inflation

[39] Ein Cousin von mir, »Buße-Schorsch« aus der Märzgasse, wurde ein Opfer dieser bösen Zeit. Er war das einzige Kind der Familie, ein schöner, großer blonder Junge von zehn Jahren, so alt wie ich, voller Leben und Unternehmungsgeist. Im Frühjahr, als mein Onkel Fritz am Vormittag aufs Feld fuhr, saß Schorsch mit seinen Spielkameraden auf einem Baum in der Schloßstraße, und sie sangen lauthals: »Schöner Frühling, komm doch wieder...«, mein Onkel hatte seine Freude daran. Als er vom Felde wieder nach Hause fuhr, war sein Junge schon tot. Ein junger Mann, der hinter dem Schloß mit Gewehren auf dem »Wehrmachtspark« spielte, hatte auf die Jungen gezielt und geschossen, als sie durch das Schloß nach Hause gingen. Schorsch wurde im Schloßbogen vom Rücken her ins Herz getroffen. Ganz Steinau war in Aufruhr, und meinem Onkel Fritz hat das wohl den Lebensnerv getroffen, er hat diesen Mord an seinem schönen gesunden Jungen nie Im Leben überwunden.

Was nach der Revolution kam, haben wir Kinder eigentlich nur am Rande erlebt. Wie mir mein Vater später einmal erzählte, gab Ihm meine Mutter bei seiner Heimkehr aus dem Kriege 2000 Mark und sagte: »So, Wilhelm, hier sind 2000 Mark, damit kannst du dein Geschäft wieder anfangen.« Diese Summe hatte sie bei all ihrer Mühe während des Krieges auch noch erspart. Alles, was vor dem Krieg erspart worden war, wurde damals in »Kriegsanleihe« angelegt, wie es sich gehörte, das war nun alles hin. Was nicht für den Krieg angelegt worden war, verfiel dann in den Jahren danach. Die Waren wurden immer teurer, und für das Geld konnte man weniger kaufen, später erfuhen wir, daß das eine »Inflation« war. Da das Geschäft damals auch immer sonntags geöffnet war und zwar bis spät abends, saß die ganze Familie Sonntag abends um den Wohnzimmertisch und bündelte das eingegangene Geld. Papa steckte die Bündel dann in einen Rucksack und in einen Koffer und fuhr montags nach Frankfurt/Main zum Einkaufen. Er brachte dafür dann immer weniger Ware mit, so daß am Schluß weder Ware noch Geld da waren. Zu meiner Konfirmation 1923 hatte ich 60.000 RM bekommen, jeder schenkte mir 1000 oder 2000 Mark. Ich sollte das Geld sparen und bekam dann gerade noch eine Briefmarke dafür.


Persons: Merz, Katha
Places: Steinau an der Straße · Frankfurt
Keywords: Kriegsanleihen · Inflation
Recommended Citation: „Katha Merz, Ein Steinauer Kind erlebt den Ersten Weltkrieg, 1914-1918, Abschnitt 4: Tod des Cousins, Nachkriegszeit, Inflation“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/81-4> (aufgerufen am 24.04.2024)