Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921

Abschnitt 4: Zusammentreffen mit Kaiser Wilhelm II. in Berlin, 1918

[140-141]
Am 26. Oktober [1918] kam ich aus meinem Büro [im Reichsamt des Innern] und ging die Wilhelmstraße entlang. Am Reichskanzlerpalais stand ein Schutzmann, der mir bedeutete, nicht weiter zu gehen. Im selben Augenblick kam aus dem Tor heraus der Kaiser, in Feldgrau mit Helm. Er wollte zu Fuß hinübergehen ins Zivilkabinett.1 Ich stand vorschriftsmäßig da, die rechte Hand an der Mütze, die linke am Säbel. Der Kaiser grüßte, sah mich dann aber an, rief mich zu sich und gab mir die Hand. Er erkundigte sich sehr teilnehmend nach meiner Verwundung, kam dann aber auch auf die Politik. Er hatte einen Feldmarschallstab in der Hand, mit dem er mich ein paar Mal anstieß, dabei redete er ununterbrochen. Ich selbst konnte gar nichts sagen, als auf die ersten Fragen antworten. Er meinte zuerst, er beneide mich darum, daß ich den ersten Vormarsch in Frankreich mitgemacht hätte. Dann kam er auf die Politik zu sprechen, schwang den Marschallstab und sagte unter anderem: „Daß mir keine Königlichen Rechte preisgegeben werden! Verstanden?" Was er im übrigen sagte, kann ich nicht wiederholen. Meine Mutter nahm mir nämlich am Abend noch das Versprechen ab, es niemandem weiter zu erzählen, und dieses Versprechen will ich halten. Der Kaiser gab mir dann noch einmal die Hand und ging weiter. Er war an dem Tage in Berlin zu der entscheidenden Besprechung, in welcher er dem General Ludendorff den Abschied erteilte.2 Drei Tage später verließ er Berlin für alle Zeiten.

Von der anderen Seite der Straße aus hatten die konservativen Abgeordneten von Maltzahn und von Jena3 sowie der sozialdemokratische Abgeordnete Hirsch4 den Vorgang mit angesehen. Die ersteren kamen sofort auf mich zu, und ich sollte erzählen, was der Kaiser gesagt habe. Ich erwähnte zur Vorsicht nur den Satz, daß keine Königlichen Rechte preisgegeben werden sollten. Daraus wurde nachher im Abgeordnetenhaus mächtig Kapital geschlagen und gefolgert, daß man überhaupt keine Wahlreform machen dürfe5; sogar Heydebrand sprach mich darauf an. Dem Abgeordneten Hirsch erzählte ich auf seine Frage vertraulich, der Kaiser habe gesagt, er rechne bestimmt darauf, daß wir im Abgeordnetenhaus eine Lösung fänden, die das Volk zufrieden stelle; dafür mache er mich verantwortlich; letzteres sei der Stoß mit dem Marschallstabe gewesen. Hirsch meinte nur: „Für so vernünftig hätte ich den Kaiser gar nicht gehalten." Diese Erzählung war der letzte Dienst, den ich dem Kaiser während seiner Regierungszeit leistete. So hängen mit jenen Toren des Reichskanzlerpalais die größten [S. 141] Erinnerungen zusammen. Am südlichen Tore stand ich als kleiner Junge und sah die letzte Abreise Bismarcks. Am nördlichen Tore stand ich und sah den letzten Besuch eines Deutschen Kaisers im Reichskanzlerpalais.


  1. Das Zivilkabinett des Kaisers diente vor allem zur politischen Information und Beratung in Fragen der Innenpolitik; letzter Chef des Zivilkabinetts von Oktober bis November 1918 war Clemens von Delbrück (1856—1921).
  2. Ludendorff, Kriegserinnerungen S. 616 f.; Quellen 2 S. XXXI, 382.
  3. Wilhelm von Jena (1866—), Rittergutsbesitzer, MdA s. 1911.
  4. Paul Hirsch (1868—1940), MdA 1908—1918; bis zum Kapp-Putsch erster Ministerpräsident des republikanischen Preußen.
  5. Das preuß. Abgeordnetenhaus war am 23. Oktober „zum Zwecke der ungestörten Tätigkeit des verstärkten Staatshaushaltsausschusses und des Wahlrechtsausschusses“ bis zum 15. November vertagt worden. Sten. Berichte Pr. Abg.-Hs. 1916/18 Bd. 9 Sp. 11629.

Persons: Bredt, Johannes Victor · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser · Ludendorff, Erich von · Maltzahn, von · Jena, Wilhelm von · Hirsch, Paul · Delbrück, Clemens von · Heydebrand und der Lasa, Ernst von · Bismarck, Otto von
Places: Berlin · Frankreich
Keywords: Reichsamt des Innern · Reichskanzlerpalais · Preußisches Abgeordnetenhaus
Recommended Citation: „Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921, Abschnitt 4: Zusammentreffen mit Kaiser Wilhelm II. in Berlin, 1918“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/62-4> (aufgerufen am 18.04.2024)