Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpostbriefe des Marburger Theologiestudenten Gotthold von Rhoden, 1914-1915

Abschnitt 1: 26.12.1914: Brief Gottholds von Rohden aus Beaurains

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Gotthold von Rohden wurde am 4. Februar 1895 in Bielefeld geboren, zu Beginn des Krieges war er also erst 19 Jahre alt. Er hatte in Marburg ein Theologie-Studium begonnen, gehörte jedoch vermutlich zu den Kriegsfreiwilligen, die sich in den ersten Kriegsmonaten an die Front meldeten. Am 2. Weihnachtstag 1914 schreibt er aus Beaurains vor Arras, am 10. Februar 1915 aus Boiry südlich Arras und am 8. Juli 1915 aus Salency (Département Oise). Den letzten der fünf hier wiedergegebenen Briefe schrieb Gotthold von Rohden am 2. August 1915. Er fiel 20jährig am 26. September 1915 während der Herbstschlacht in der Champagne.


. . . Den Weihnachtsabend waren wir gespannter auf dem Posten, weil die Franzosen wohl einen Angriff versuchen konnten. Der Halbmond strahlte in voller Helle — ein recht ungünstiges Wetter zum Patrouillengehen. Sechs Kriegsfreiwillige vertrauten sich meiner Führung an und nach Einbruch der Dunkelheit krochen wir los; der Feind ist kaum 400 Meter entfernt. Eine natürliche Böschung führte auf den Feind zu, so daß wir in ihrem Schatten bis ziemlich dicht herankamen. Während Ihr fröhlich unter dem leuchtenden Weihnachtsbaum saßet und die Kinder gespannt auf das Abnehmen des schneeweißen Leinens von den Geschenktischen warteten, während dann einer des anderen Herrlichkeiten gebührend bewunderte und Ihr vielleicht später gemütlich und traulich beisammensaßet und Euch einfach über das Beisammensein freutet, da kroch ich Schritt für Schritt, immer mit voller Nervenkraft auf jedes Geräusch oder dunkles Etwas gespannt achtend, auf den vor mir liegenden feindlichen Graben los. Nun war ich so weit, daß ich nur noch einen „Sprung" zu machen gedachte. Doch endlich waren die Franzleute vor uns aufmerksam geworden. Die ersten scharfen Schüsse hallten durch die schweigende „stille Nacht". Wir vier Leutchen — zwei hatte ich zur Sicherung gegen Umzingelung zurückgelasten — hockten hinter einer kleinen Deckung. Mein fester Entschluß war sofort: Verteidigung wäre unser aller sicherster Untergang, denn schon kamen sie von rechts und geradeaus auf uns zu, ein Einkreisen würden wir nicht verhindern können. — Also zurück. Gesehen und beobachtet hatte ich genug. Dreißig Meter hinter uns ist wieder eine kleine Deckung. Noch sind [S. 118] wir nicht dahinter verschwunden, als eine der vielen Kugeln meinen Kameraden K. W. niederstreckt. Ein anderer, dem eine Kugel am Arm durch Mantel und Rock, eine andere zwischen den Beinen durch den Mantel fuhr, wollte auch zurückbleiben, aber aus meinen strikten Befehl rettete er sich ins Dunkel; der vierte war kopflos davongelaufen und hatte die ganze Kompagnie mit Hauptmann durch die Nachricht von meiner und W.s Gefangennahme in hellste Aufregung versetzt. Die Franzosen kamen näher, mein Schicksal schien mir vollkommen besiegelt: Ade jetzt ihr da drüben und Ihr zu Hause; wenn die Franzosen Menschen sind, dann vielleicht auf Wiedersehen nach dem Kriege! Allein lassen konnte ich W. selbstverständlich unter keinen Umständen. Jede Sekunde erwartete ich den Feind um meine Deckung biegend — aber Gott hat es anders vorgehabt mit uns: An der Stelle, wo wir kurz vorher gestanden, machten sie halt und unterhielten sich laut, offenbar über diese nächtliche Ruhestörung. Da lag ich nun neben dem Verwundeten, bettete seinen Kopf weich, flüsterte ihm Trost und Mut zu, suchte seine Wunde am Oberschenkel zu verbinden und dachte über die Christnacht nach und — — über mancherlei anderes. Und gerade diese Nacht hat uns wohl gerettet, denn der Franzmann hatte offenbar das Fest mit Alkohol zu feiern gesucht und sang nun laut in die Nacht hinein: Marseillaise, God save the king, ein Weihnachtslied und Soldatenlieder. Einer brüllte hinüber: „Sie wollen kommen nach Paris, sie nach Paris kommen nicht." Die drüben sangen Weihnachtslieder, mehrstimmig, und unsere Vaterlandslieder. Wenn einer ein Solo gab, klatschte das Gegenüber Beifall. Mäuschenstill lauschte der Franzmann unseren Christnachtsliedern, die Ihr zu gleicher Zeit wohl auch gesungen. Der Feind vor uns ist abgelenkt und denkt auch nicht daran, durch eine Patrouille das Gelände vor sich aufzuklären, nur einmal wird er auf die Bewegung und das Stöhnen aufmerksam, aber die Kugeln gehen über uns weg. Als ich den starken Blutverlust sah, denke ich schon daran, mich zu melden und gefangen zu geben, um dadurch vielleicht W. vor dem Verbluten zu retten. Der Hauptmann hat mich ausgelacht, als ich ihm das erzählte, ich wäre immer noch ein zu naiver Idealist, ob ich geglaubt, daß der Feind sich großartig um einen deutschen Verwundeten gekümmert hätte! Zum Glück brachte mich W. selbst schnell von dem [S. 119] Gedanken ab: Nur nicht gefangen. Lauter wieder flüsterte er: „Kommen sie nicht und holen uns?"
Als ich ganz allmählich hoffen durfte, daß die Franzosen uns vorderhand nicht entdecken würden, da mußte ich auch auf einen Weg zur Rettung sinnen, so unmöglich sie im ersten Augenblick erschien, und ich beobachtete mit sehnlicher Ungeduld, wie der niedergehende Mond allmählich die Schatten der Böschung länger werden ließ. Was ich alles in den zwei Stunden, bis es tatsächlich dunkler geworden war und ein tapferer Krankenträger doch bis zu uns hingeschlichen kam, obwohl er nicht wußte, wo wir lagen, wie weit vor, ob überhaupt noch — er hätte ja 10 Meter vorher kehrtmachen können —, erlebte und dachte, das läßt sich nicht in ein paar Sätzen wiederholen; nur das eine will ich Euch sagen, daß ich vollkommen ruhig war und mich keinen Augenblick vor dem Kommenden fürchtete, weil ich mich in einer höheren Hand wußte. Auch macht das Bewußtsein, einem anderen Menschen der einzige Trost und Schutz zu sein, selbst stark und sicher.


Persons: Rohden, Gotthold von
Places: Bielefeld · Marburg · Champagne
Keywords: Feldpost · Feldpostbriefe · Studenten · Theologen · Kriegsfreiwillige · Herbstschlacht in der Champagne 1915 · Weihnachten · Franzosen · Patrouillen · Weihnachtsbäume · Weihnachtsfrieden · Gefallene · Verwundete · Weihnachtslieder · Soldatenlieder · Krankenträger
Recommended Citation: „Feldpostbriefe des Marburger Theologiestudenten Gotthold von Rhoden, 1914-1915, Abschnitt 1: 26.12.1914: Brief Gottholds von Rohden aus Beaurains“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/61-1> (aufgerufen am 23.04.2024)