Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921

Abschnitt 22: Mangelwirtschaft und Zwangsmaßnahmen, Diebstähle

[43-44] 1918.

Die Lebensverhältnisse verschlechterten sich immer mehr. Im Winter 1917/18 machte sich besonders die Kohlennot empfindlich bemerkbar. Das Holz vom vergangenen Jahr war bald aufgebraucht. Daher wurde vielfach das frischgefällte Holz verfeuert. Mit Sorgen sah der Förster, wie sich der Waldbestand lichtete. Die Holzpreise waren sehr hoch. Das Klafter Buchenscheit kostete 250 bis 300 Mk. Die Stadtverwaltung kam der Bürgerschaft entgegen, indem sie ein Drittel, an die Familien und Hinterbliebenen der Krieger sogar die Hälfte der Kosten des gesteigerten Holzes zurückzahlte. Rechtzeitig sorgte man für den kommenden Winter. Am 8. Mai fand eine Erhebung über den Bedarf an Brennstoffen statt. Bald danach mußte jeder Verbraucher zwecks späterer Belieferung sich in die Kundenlisten der hiesigen Kohlenhändler eintragen lassen. Am 13. Mai war der vorhandene Bestand auf dem Rathaus zu melden. Auch die Eisenbahn hatte unter dem Mangel an Kohlen schwer zu leiden. Die Züge wurden nicht wehr geheizt und trafen oft mit stundenlangen Verspätungen ein.

Die diesjährigen Hausschlachtungen mußten bis zum 31. Januar vorgenommen sein, sonst wurde die Genehmigung versagt. Im Februar wurde der Bestand an Brotgetreide ausgenommen. Im gleichen Monat wurde den Hühnerhaltern anbefohlen, von jedem Huhn monatlich eine bestimmte Zahl von Eiern abzuliefern, und zwar im Februar 1, im März 3, im April und Mai je 6, im Juni 5, im Juli 4, im August 3 und im September 2 Stück. Es wurde eine Eiersammelstelle errichtet, mit deren Verwaltung Johann Wieser beauftragt war. Sie zahlte für 1 Ei 26 Pfg. Im August wurde ebenso wie im vergangenen Jahre die ganze Ernte beschlagnahmt. Im September wurden die fleischlosen Wochen eingeführt. Eine große Schuld an der schlechten Ernährung trug zweifellos die mangelhafte Durchführung der Zwangswirtschaft, welche die vorhandenen Bestände nur unvollkommen erfaßte. Kein Mensch konnte von dem satt werden, was er zugeteilt erhielt. Fast jeder mußte sich auf unerlaubtem Wege einen großen Teil seiner Nahrung beschaffen. Haufenweise kamen die Städter aufs Land, um sich Eier, Butter, Mehl, Fleisch, Kartoffeln und viele andere Lebensmittel zu holen. Mit der größeren Kundschaft wuchsen die Preise, und der kleine Mann seufzte immer mehr.

Die allgemeine Moral erreichte einen nie gekannten Tiefstand. Diebstähle waren an der Tagesordnung. Gärten wurden geplündert, Hühner verschwanden am hellichten Tage, ja es kam sogar vor, daß das Vieh des Nachts in den Ställen abgestochen und fortgeschafft wurde. Was nicht niet- und nagelfest war, mußte hinter Schloß und Riegel gehalten werden. Bei alledem waren die Zustände hier noch rosig im Vergleich zu denen in den Städten und Industriegegenden; denn die meisten Familien besaßen Garten und Acker und konnten sich das Notwendigste selbst besorgen.


Recommended Citation: „Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921, Abschnitt 22: Mangelwirtschaft und Zwangsmaßnahmen, Diebstähle“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/34-22> (aufgerufen am 16.05.2024)