Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Hermann Cohen, Vom ewigen Frieden

Abschnitt 1: Das Ideal des ewigen Friedens und der Kriegseinsatz

[141-143]
[Die im Druck gesperrten Passagen sind im Folgenden unterstrichen.]


Vom ewigen Frieden.

von Hermann Cohen.

Wie wir euch, liebe Kommilitonen, bewundern und glücklich preisen, da ihr euer Leben einsetzt für die Existenz des Vaterlands, so sorgen wir doch zugleich um euch, um eure Beschwerden und Gefahren. Einem alten Lehrer der Philosophie wird es aber verzeihlich sein, wenn er noch ein ganz besonderes Mitleid euch widmen muß.
Ihr lebt unter den schwersten Anforderungen und Nöten des menschlichen Daseins, und zugleich fühlt ihr euch in das Land der Freiheit und des Ideals emporschwebend, aller Erdensorgen, gleichsam aller Materie, enthoben, nur im Ideal der Pflicht und der Selbstaufopferung atmend — und da könnte und dürfte euch noch der Gedanke beschleichen, daß jenseit aller eurer Mühen ein wahrhaftes Ideal bestehen soll in demjenigen Zustande der Menschen und der Völker, den der ewige Frieden bezeichnet?

[S. 42] Wie der Kriegerstand überhaupt in der sittlichen Ebenbürtigkeit seines Berufes sich herabgesetzt fühlt durch diese Sage oder selbst auch diese Idee vom ewigen Frieden, so könntet ihr, die ihr für uns blutet, für den Fortbestand und die Ehre des Deutschen Reiches, für die Forterhaltung des deutschen Gedankens in seiner Eigenart, in den Wissenschaften, in Recht und Staat, in Religion und Kunst — ihr wahrhafte Arbeiter und Kämpfer im Ideal, ihr könntet doch in die Gewissensangst getrieben werden, als ob ihr gegen das Ideal des ewigen Friedens verstießet, als ob der Gehorsam, den ihr dem Vaterlands leistet, ein Widerspruch wäre gegen jenes Ideal, und als ob dieses überhaupt ein anderes, ein höheres, das wahrhafte und alleinige Ideal der Sittlichkeit wäre.
Um diesen Gedanken, wenn er in einem schwachen Momente in euch aufstiege, täte es mir leid um euch. Und darüber möchte ich euch trösten können, indem ich euch zur Besinnung aufrufe über den eigensten Grundgedanken unserer deutschen Philosophie, wie Kant sie zur Reife gebracht hat.
Dieser Grundgedanke ist kein anderer als der alte platonische, auf den Kant selbst sich beruft: die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Sein, Wirklichkeit und Idee, oder wie unser Schiller sagte: Ideal und Leben, indem er die erste Überschrift dieses Gedichtes: „Das Reich der Schatten" dahin berichtigte. Weder das Reich der Ideen, noch das der Wirklichkeit, darf [S. 43] als Schattenreich gedacht werden; vielmehr muß das Leben Bestand haben im Lichte der Ideen, dem es in der unendlichen Annäherung der Weltgeschichte entgegenringt. Ohne die Wirklichkeit würde die Idee selbst zu einem Schatten; es könnte ihr Eigenlicht nicht dahin ausstrahlen, wo es zu sinngemäßer Wirksamkeit kommt und daher auch erst zu seinem Eigenwerte.
Die Wahrheit, als die wir diesen Grundgedanken des kritischen Idealismus erkennen, besteht in der Unterscheidung der Idee, als der unendlichen Aufgabe für allen sittlichen Zweck des Menschengeschlechtes, wie des einzelnen Individuums, in der Unterscheidung dieser ethischen Bedeutung der Idee von aller Wirklichkeit der Natur und aller geschichtlichen Erfahrung.


Persons: Cohen, Hermann
Keywords: Philosophie · Professoren · Ewiger Friede
Recommended Citation: „Hermann Cohen, Vom ewigen Frieden, Abschnitt 1: Das Ideal des ewigen Friedens und der Kriegseinsatz“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/166-1> (aufgerufen am 25.04.2024)