Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Der erste Kriegsmonat im Offenbacher Abendblatt, August 1914

Abschnitt 11: 3.8.1914: Krieg und kapitalistische Wirtschaft


Krieg und kapitalistische Wirtschaft.

Die Kriegsgefahr allein hat bereits zu Katastrophen geführt, die das wirtschaftliche Leben aufs tiefste erschüttern. Der Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaft wurde zuerst dort getroffen, wo er am empfindIichsten ist: die Börsen haben aufgehört zu funktionieren nicht nur in Oesterreichs sondern auch in Deutschland, Frankreich, England, Belgien, Holland, selbst in Amerika. Scheinbar kann das gewerbliche Leben auch ohne die Börse sich abwickeln, aber die Beschließung der Börsen ist ein Symptom dafür, daß das Vertrauen geschwunden ist, daß der Kredit versiegt. Und in der Tat — in der Geschäftswelt hallt es von Klagen wider, daß die wenigen Tage akuter Kriegsgefahr bereits eine Stockung des Warenumsatzes in nie dagewesenem Umfange bewirkt haben. Der Fabrikant kann nicht mehr Aufträge selbst von sicheren Kunden entgegen nehmen, wenn er auf Kredit liefern soll, weil er keine Gewähr hat, daß sein Bankkredit bestehen bleibt, daß seine Lieferanten die Zahlungen stunden werden. Das gesamte Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft ist heute auf Kredit eingestellt und es ist absolut unmöglich, den Warenumlauf aufrecht zu erhalten, sobald der Kredit schwindet. Die unmittelbare Folge aber ist, daß Millionen von Arbeitern dadurch von Arbeitslosigkeit bedroht werden. Man macht in den Komptoirs kurzen Prozeß: es ist in diesen Tagen bereits in vielen Fabriken und Handelsbetrieben den Arbeitern die bedingte Kündigung ausgesprochen worden. Das ist furchtbar hart und doch unvermeidlich, denn in den weitaus meisten Fällen ist der Fabrikant faktisch nicht in der Lage, Löhne zu zahlen, wenn der Warenabsatz stockt. Deshalb heißt es einfach: wird die Mobilmachung verkündet, dann wird der Betrieb geschlossen und es wird nur der Lohn ausgezahlt, auf den der Arbeiter kraft des Arbeitsvertrags ein Recht hat.

Daß aber ein sehr großer Teil der Fabrikbetriebe auch tatsächlich geschlossen werden wird, kann nicht dem leisesten Zweifel unterliegen. Es bestehen dafür eine ganze Reihe zwingender Gründe. Erstens wird in vielen Fällen bei gesichertem Absatz des Produktes und gesichertem Rohmaterial der Betrieb garnicht aufrecht erhalten werden können, wenn Arbeiter, die notwendig und schwer ersätzlich sind, zum Waffendienst berufen werden. Bei der weitfortgeschrittenen Arbeitsteilung genügt, daß ein paar hoch qualifizierte Spezialarbeiter, Werkführer oder Techniker fehlen, um den gesamten Betrieb lahmzulegen. Zweitens wird der Absatz in vielen Fällen unnöglich sein. Der Verkauf von Industrieerzeugnissen für den Massenbedarf wird verringert, weil natürlich jeder einzelne den Ankauf von Kleidung, Wäsche, Möbeln, Hausbedarf auf das allernotwendigste einschränken muß. Auch die Industrie, die Luxusartikel fabriziert, steht vor dem Ruin. Selbstverständlich wird während des Krieges auch niemand daran denken, die Produktionsbetriebe zu erweitern und somit wird die gesamte Industrie, die Produktionsmittel liefert — Maschinen, Geräte usw. — brachgelegt. Auch die Exportindustrie wird im höchsten Maße eine Unterbindung des Absatzes erfahren. Sämtliche Länder, die sich im Kriegszustande befinden, hören naturgemäß auf, Waren aus Deutschland zu beziehen. Ob und inwiefern der überseeische Export und Import aufrechterhalten werden kann, bleibt eine Frage, die nicht ganz klar zu entscheiden ist.

Schon vor der Erklärung, daß Deutschland sich im „Zustande der Kriegsgefahr befindet", wurden die Versicherungsraten in der Schiffahrt enorm in die Höhe gesetzt, und die Rhedereien gaben ihren Kapitänen die Weisung, bei Ausbruch des Krieges den nächsten Hafen anzulaufen und dort liegen zu bleiben. Dann wurde sogar das Auslaufen der Schiffe sistiert. Im Kriegsfall werden Schiffe der kriegsführenden Mächte aufs äußerste gefährdet sein. Denn darüber ist man sich einig. daß es einen wirksamen Schutz der Handelsschiffe durch die Kriegsmarine nicht geben kann. Es wird die wilde Jagd auf dem Ozean beginnen. — Werden die deutschen Häfen blockiert werden? Das ist die weitere Frage. Solange Deutschland sich nicht im Kriegszustände mit England befindet, ist sie wohl zu verneinen, denn keine andere Macht ist imstande, eine solche Blockade faktisch durchzuführen. Somit wäre in diesem Falle darauf zu rechnen, daß neutrale Schiffe deutsche Häfen anlaufen können. Aber soweit diese Schiffe „Kriegkontrebande" führen, sind sie in Gefahr von den Kreuzern einer mit Deutschland im Kriege stehenden Macht aufgegriffen zu werden, was aber Kontrebande ist, darüber sind die Bestimmungen ungemein verworren. Lebensmittel sind in den letzten Kriegen als solche behandelt worden, ebenso Kohlen. Aber eine kniffliche Auslegung des Völkerrechtes führt dazu, daß alles, was in irgend einer auch nur entfernten Weise Kriegszwecken dienen kann, als Kontrebande behandelt wird. Petroleum kann für Motors der Kriegsfahrzeuge dienen, aus Baumwolle kann man Schießbaumwolle bereiten, Kupfer kann zu Geschossen dienen und was der Spaße mehr sind. Nun bleibt für Deutschland der Bezug über die neutralen Häsen Belgiens und Hollands offen und das bietet die Hoffnung, daß die Zufuhr wenigstens zum Teil möglich sein wird. Aber natürlich werden Produkte, die auf diesem Wege hereinkommen, unter allen Umständen sehr teuer sein. Erstens werden die Seefrachten gewaltig gesteigert, zweitens wird auch der weitere Transport von jenen Häfen nach dem deutschen Binnenlands sich sehr teuer stellen. Es ist daher gar keine Frage, daß die Industrien, die überseeische Rohstoffe verarbeiten, mit einer gewaltigen Verteuerung derselben zu rechnen haben, was abermals eine Einschränkung der Produktion bewirken muß.

Und wie steht es mit Lebensmitteln? Die Agrarier haben oft mit dem Ueberschuß an Roggen geprahlt, den Deutschland in den letzten Jahren produziert. Aber dieser Ueberschuß ist nur ein scheinbarer. Er besteht, weil Roggen auf Kosten der Futterstoffe angebaut wurde. Wird die Zufuhr von Gerste, Hafer, Mais, Kleie, Oelsamen usw. unterbunden, dann ist die Ernährung von Mensch und Vieh sehr bald in Frage gestellt. Die Regierung hat rechtzeitig die Ausfuhr von Getreide verboten und die zum Glück reichliche Ernte Deutschlands bleibt zur Verfügung. Aber die Versorgung ist äußerst knapp. Ob sie vor effektivem Mangel schützt, hängt davon ab, wie lange der Krieg dauern wird. Gar keinem Zweifel aber kann unterliegen, daß der Krieg eine nie dagewesene Teuerung unter allen Umständen nach sich ziehen wird.

Es ist zu erwarten, daß die Behörden bei Ausbruch des Krieges sofort Maßnahmen ergreifen, um dem Lebensmittelwucher seitens der Händler mit äußerster Energie entgegenzuwirken. Aber auch das kann nicht verhindern, daß fühlbarer Mangel sich einstellen muß. — Es kommt hinzu, daß für einige Zeit die Verproviantierung der Großstädte aufs äußerste erschwert sein wird infolge der Stockung des Eisenbahnverkehrs. Die Eisenbahnen werden während der Mobilisation von Militär mit Beschlag belegt und deshalb werden die Transporte von Milch, Vieh, Gemüse aufhören. Dieser Zustand wird zwar nicht lange dauern, aber er genügt, um in den Städten furchtbaren Mangel zu erzeugen.

Arbeitslosigkeit in ungeheuerlichem Maße und enorme Verteuerung des Lebensunterhaltes wird der Krieg unter allen Umständen zeitigen. Was dann aus den Massen der werktätigen Bevölkerung werden soll, das ist eine Frage, die die herrschende Klasse bei ihrem Treiben sich niemals vorgelegt zu haben scheint. Es wird klar, daß wenn das kapitalistische Getriebe derart aus den Fugen geht, der Kriegszustand dazu führen muß, sofort neue Formen des gesellschaftlichen Lebens hervorzurufen.

[Offenbacher Abendblatt vom 3. August 1914]


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