Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 28: IV. Zivilbevölkerung in Cernay-les-Reims

[82-85] [S. 82] 20. Mai 1917.
Ich sitze hier auf einem Reims vorgelagerten, die Stadt beherrschenden Bergblock als Führer einer Nahkampfgruppe, die aus Infanterie, Maschinengewehren und den verschiedensten technischen Waffen sich zusammensetzt.

[…] [S. 83]
22. Mai.
Vor Ostern konnte man das Franzosenvölkchen noch bei Musik sich vergnügen hören — angesichts des Feindes, der vielleicht manchmal ganz gern mitgetanzt hätte, aber vom Vergnügen ausgeschlossen war. Die Elektrische verkehrte noch, die Glocken läuteten, die Fabrikschornsteine qualmten. Dort, wie in allen Dörfern hinter unserer Linie, herrschte noch reges, arbeitsames, bürgerliches und bäuerliches Leben.
Sogar in Cernay - les - Reims, durch das unsere Schützengräben hindurchgehen, hatte ein großer Teil der Bevölkerung es vorgezogen, zu bleiben und mit dem bösen Feind sich zu vertragen, der sich — zum eignen Schaden oft — ja immer so leicht und gut verträglich erweist. Die Kinder sammelten in den Schützengräben die verlauste Soldatenwäsche, Frauen [S. 84] und Mädchen wuschen sie, die Kinder brachten sie zurück in die Unterstände.

Ließ gelegentlich die französische Artillerie es sich einfallen, in bedrohliche Nähe zu schießen, so winkten die Mädels vom nahen „Kindelberg" aus hinüber, und die Kanoniere hatten ein Herz und ein Einsehen. „O Kanonier français gutt!" meinten sieghaft die Friedensvermittlerinnen.
Ich bin heute durch Cernay gegangen und habe auf dem Friedhof, in dessen Mauer eine französische Granate ein klaffendes Loch gerissen und einige Kreuze zerschlagen hat, einen herrlichen, duftenden Fliederstrauß gepflückt.
Die Straßen sind aufgerissen. Die Kirche ist ganz zerstört. Leer starren die Fenster der Häuser; in manchen hängt noch traurig ein Rest eines angeschwelten Gardinenzipfels. Hausrat, zerbrochene Betten, Bücher, rührendes Kinderspielzeug liegt umeinander. Die Dächer sind eingeschossen und mit den Stockwerken in die Tiefe gestürzt. Aus den Trümmern des Pfarrhauses klingt die ergreifende Weise des Ave Maria und dann: Ein feste Burg ist unser Gott —. Wie durch ein Wunder ist das Harmonium fast unverletzt geblieben. Ein Leutnant hat es gefunden.
Mit Beginn der Frühjahrsoffensive wurden die Dörfer, so weit die Geschütze nur trugen, beschossen; sie mußten geräumt werden. Die Bewohner wurden heimatlos.
Hunderte reicher Dörfer in der fruchtbarsten Gegend Frankreichs, die wir Barbaren jahrelang sorgfältig geschont haben, wurden von französischen Granaten in Trümmer und Asche gelegt. Verödet und ausgestorben [S. 85] trauern sie inmitten einer früchteschweren, wildwuchernden Vegetation.
Die großen Mühlen und Webereien an der Suippes, an der Aisne und ihren Nebenflüssen stehen still. Die Maschinensäle sind ausgeräumt; die Glasdächer haben ungezählte Schrapnellkugeln zerschmettert.
Die Wasserwerke aber rauschen — immerzu, immerzu unter üppigen Bäumen in menschenleerer Einsamkeit.


Personen: Egly, Wilhelm
Orte: Cernay · Frankreich · Friedberg · Reims
Sachbegriffe: Einheimische · Flieder · Granaten · Harmonium · Infanterie · Kanoniere · Kirche · Leutnant · Maschinengewehr · Mühlen · Musik · Ostern · Schützengräben · Tagebücher · Wasserwerke · Zerstörung
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 16: IV. Zivilbevölkerung in Cernay-les-Reims“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-28> (aufgerufen am 04.05.2024)