Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 7: II. Waldlager I

[44-46] [S. 44]

Zeltlager im Wald, 25. Juni 1916.
In der Nacht noch blieben wir auf der Höhe, neuer Angriffe gewärtig. Aber auch die Russen, hatten zu stark geblutet. Die große Masse war erschöpft. [S. 45] Hinter uns, dicht um den Rand von Pustomyty, wurde in fliegender Hast ein Schützengraben ausgehoben, und in nächtlich-gespenstischer Arbeit ein Drahtverhau gezogen. So schnell ist noch nie eine Stellung gebaut worden.
Als wir unsere Toten und Verwundeten geborgen hatten — die Russen mußten wir leider ihrem Schicksal überlassen —, zogen wir uns im Morgengrauen langsam auf die neue Stellung zurück. Ein widerlicher Blutgeruch zog im Tal. —
Da die Verluste groß waren, wurden wir um die Mittagsstunde abgelöst.
Als wir zurückgingen, um in den Wäldern bei Jaciercy ein Zeltlager zu errichten, brannte die Sonne heiß vom wolkenlosen Himmel. Am Wegrain lag in der sengenden Hitze ein barfüßiges Russenmädchen, hingekauert in den dürftigen Schatten eines kleinen Heckenrosenstrauches. Ueber den Kopf und um die Schultern hatte es ein landesüblich buntes Tuch gezogen, dessen Enden blutige Hände fest über der jungen, schwellenden Brust zusammenhielten. Das Mädchen schien verwundet zu sein. Wir wollten es verbinden, boten ihm zu trinken und wiesen den Weg nach rückwärts, wo es bei Landsleuten hätte Pflege finden können. Aber es lehnte mit stummen Gebärden ab, widerstrebte und sah uns mit großen, grauen Augen an, aus denen starrer Schrecken und Wahnsinn sprachen.
Wir gingen schweigend davon.
Das junge Weib aber kroch wimmernd in den dünnen Schatten des Busches, kehrte uns den Rücken und verhüllte Gesicht und Hände. Und um dieses vom Krieg so schwer gezeichnete Menschenkind glühte die erdrückende [S. 46] Einsamkeit eines wolhynischen Sommersonnentags.
Und ich dachte: wie aus Millionen eines deiner Kinder verschmachtet im Mittagsbrand, so liegst auch du, schwermütiges Wolhynien, und du, ganzes, großes, heiliges Rußland, am Weg, den die Weltgeschichte schreitet mit wuchtigen Schritten, hilflos im Schatten alter, scheinbarer Größe. . . So ziehst auch Du einen schwarzen Mantel über die tausend blutenden Wunden deines Leibes. Wer dir, Rußland, in die rätselvollen Augen schaut, der sieht in einen Abgrund des Grauens und Entsetzens und Elends und der Armut! — Dir ist nicht zu helfen, du mußt dir selbst Helfer sein.

27. Juni 1916.
Im Waldlager: — Unserer Division liegt das ganze russische achte Armeekorps, verstärkt durch die siebente und zwölfte Kavalleriedivision, gegenüber.
Ein heftiger Gewitterregen rauscht nieder. Das Wasser trommelt und klatscht auf die doppelt gespannten Zeltbahnen und tropft durch. Das Heu, auf dem wir liegen, wird naß wie Pferdemist.

Der Leutnant schläft. Ein anderer schreibt. Ich lese in einem Bändchen Rosegger: Geschichten und Gestalten aus den Alpen. Unser Kompagniesänger aber singt in den brausenden Sturm hinaus:

Freut euch des Lebens,
Weil noch das Lämpchen glüht . . .


Personen: Egly, Wilhelm · Rosegger, Peter
Orte: Friedberg · Jaciercy · Pustomyty · Rußland · Wolhynien
Sachbegriffe: 8. Armeekorps · Blut · Einheimische · Geruch · Gewitter · Kavalleriedivision · Stellungen · Tagebücher · Verwundete · Zeltlager
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 13: II. Waldlager I“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-7> (aufgerufen am 26.04.2024)