Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 10: Seeblockade, Rübenwinter, Not und Unterernährung

[184-185] Und es kam die Blockade und es kam der Rübenwinter. Durch allerhand Listen konnten Vater und ich im Sommer 1918 nach Holland fahren. Vater ging als Delegierter der Aktienbaugesellschaft zum Studium der Kleinwohnungsfragen. Ich wurde in der gleichen Eigenschaft vom Magistrat der Stadt Frankfurt entsandt und außerdem mit einem Empfehlungsschreiben der Frankfurter Handelskammer ausgestattet. Endlich hatten wir im Haag noch die Fürsprache des angesehenen Beigeordneten Wibaut aus Amsterdam. Als wir in Holland ankamen, entsetzten sich unsere Kinder. Jeder von uns hatte etwa 40 Pfund an Gewicht verloren und wir müssen wie graue Schatten ausgesehen haben. Man behandelte uns wie rohe Eier und erst nach und nach gestattete man uns, von der leichten Nahrung der ersten Tage zu etwas gehaltreicherer Kost überzugehen. War es doch in jener Zeit gar keine Seltenheit, dass Deutsche, die aus dem ausgehungerten Land nach Holland kamen, infolge der veränderten reichlichen Kost krank wurden.

Diejenigen aber, die es nicht so gut hatten wie wir, haben aus jener schweren Notzeit, in der es noch nicht einmal das Notdürftigste an gehaltreicher Nahrung gab, dauernde schwere Schäden zurückbehalten. Am meisten gilt das für die, die bei Beginn des Krieges zwischen zwei und 15 Jahre alt waren. Für die Säuglinge wurde einigermaßen gesorgt. Beweis: die Abnahme der Säuglingssterblichkeit während des Krieges, die nicht nur auf den starken Geburtenrückgang, sondern [S. 185] auch auf die erhöhte Säuglingsfürsorge zurückzuführen war. Unzulänglich war dagegen die Versorgung der Kleinkinder und der Heranwachsenden. Es ist ganz falsch zu glauben, dass zum Beispiel Kinder zwischen zehn und 14 Jahren mit weniger Nahrung auskommen könnten als Erwachsene. Erwachsene müssen nur verausgabte Kräfte ersetzen, in normaler Zeit durch Nahrungsaufnahme unter Zuhilfenahme des natürlichen Verbrauchs unter Abnützung der organischen Kräfte und Reserven. Bei der unzulänglichen Kriegskost wurden natürlich diese Reserven im Übermaß herangezogen und auf diese Weise die Substanz vorzeitig angegriffen. Mit dieser Minderung der Reserven mögen die durch die Grippe von 1918 im Menschenbestand angestellten Verheerungen, wie überhaupt die Zunahme der Todesfälle auch der Nichtkriegsteilnehmer und besonders der Frauen zusammenhängen. Der in seinen Grundfesten angetastete Körper war anfälliger und widerstandsunfähiger geworden. So hielt der Tod reichere Ernte, als sonst wohl der Fall gewesen wäre, und man kann mit Fug sagen, dass Hunderttausende Hungers gestorben sind, ohne dass man nachweisen könnte, dass sie „verhungert“ seien.


Personen: Fürth, Henriette
Orte: Holland · Niederlande · Frankfurt · Den Haag · Amsterdam
Sachbegriffe: Rübenwinter · Steckrübenwinter · Seeblockade · Blockadepolitik · Handelskammer Frankfurt · Hunger · Unterernährung · Säuglinge · Säuglingsfürsorge · Kinder · Jugendliche · Geburtenrückgang · Hungertote · Kriegskost
Empfohlene Zitierweise: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 6: Seeblockade, Rübenwinter, Not und Unterernährung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/29-10> (aufgerufen am 27.04.2024)