Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 1: Kriegsbeginn, Propagandalügen, Kriegsschuldfrage

[175-176]
Der Krieg

Wie ein Sturmwind kam er über uns. Ich hatte bis zuletzt nicht daran geglaubt, dass so etwas möglich sein könnte. Ich argumentierte: Bei der heutigen Verflechtung der Weltwirtschaft und der darauffolgenden wirtschaftlichen Abhängigkeit der Völker voneinander ist ein Krieg ein Wahnsinn und eine Unmöglichkeit und kein Volk wird ihn länger als sechs Wochen aushalten können.

Und dann war er da und hat mehr als vier Jahre gedauert und hat eine verwüstete Welt und eine an Leib und Seele verarmte und verelendete Menschheit zurückgelassen. Wir waren in Berlin, als das Attentat von Sarajewo geschah, und waren von Bornholm, wo wir ein paar wundervolle Wochen zusammen mit Gertrud David, der liebenswerten ersten Frau von Eduard David, verbracht hatten, wieder zurück, als das Ultimatum erging. „Das ist der Krieg“, sagte ich, aber in mir war etwas, das noch nicht daran glaubte und die menschliche Vernunft [S. 176] höher schätzte, als sie war. So kam es, dass wir noch am 24. Juli in frohester Stimmung den 60. Geburtstag Vaters feierten. Am Morgen dieses Tages war Herr Zorbach, der Verwalter des Burgstraßenblocks der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen, mit der Frage zu mir gekommen, ob es genehm sei, wenn der Gesangverein Burgstraße Vater ein Ständchen brächte. Ich stimmte gern zu, richtete Bowle und Konfekt und weidete mich an der Rührung und Überraschung Vaters, dieses mehr als bescheidenen Mannes, als die Weisen ihm zu Ehren vom Garten herauf klangen. Dann Bewirtung der Herren, Ansprachen etc.

Acht Tage später war der Krieg da. Siegmund wurde sofort eingezogen. Er scherzte unsere Sorgen hinweg: „In sechs Wochen sind wir in Paris. Soll man da Frack und Smoking mitnehmen?“ So leicht war ihm doch nicht zumute. Das stand auf seinem Gesicht geschrieben. Wir alle aber, wir dummen politischen Kinder, glaubten an die Mär des uns aufgezwungenen „Existenzkriegs“ und an all die andern Lügen, mit denen man Begeisterung und Hingabe wecken oder steigern wollte. Später freilich ist dieser Kampf in der Tat zu einem Existenzkrieg für uns geworden, der auch heute noch, nach 18 Jahren, nicht zu Ende ist. Und letzten Endes, das war mir schon sehr bald nach Kriegsbeginn klar geworden, war es wirklich von Anfang an ein Existenzkrieg, aber einer, der aus anderen Hintergründen als den uns vorgetäuschten hervorkam und mit den Mären, die man um die „Kriegsschuldlüge“ spinnt, nichts zu tun hat. Die Kriegsschuld, wenn man überhaupt diesem Geschehen gegenüber von einem so engen Begriff sprechen kann, lag bei Wilhelm II., seinen Ratgebern und den ihn beeinflussenden Kriegsinteressenten in Militär und Schwerindustrie und sie lag andererseits und aus den gleichen Erwägungen heraus bei den Engländern. Der Größenwahnsinn des deutschen Kaisers und seiner Vasallen äußerte sich als Machtanspruch zur See und im kolonialen Bereich. Die Engländer wären bereit gewesen, mit dem Kaiser dahin zu paktieren, dass man Deutschland die Suprematie auf dem Festland gegen den Anspruch auf Beherrschung der Meere durch die Engländer zuerkannt hätte. Der Kaiser aber schwärmte bekanntlich für koloniale Erwerbungen und behauptete, die Zukunft Deutschlands läge auf dem Wasser. — Und wenn wir ganz in die Tiefe gehen wollen, taucht hinter der Verhandlungsbereitschaft Englands die eigentliche Kriegsursache auf: Die Furcht Englands vor der wirtschaftlichen Suprematie Deutschlands, d. h. vor der Eroberung der Welt durch die technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Leistung Deutschlands. Die Ziffern der bezüglichen Handels- und Zahlungsbilanzen zeigen deutlich das Erstarken der deutschen Wirtschaft und ihre Konkurrenzfähigkeit1. Dem musste man entgegen arbeiten.


  1. Siehe Henriette Fürth, Die deutschen Frauen im Kriege, 1917

Personen: Fürth, Henriette · David, Gertrud · David, Eduard · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser
Orte: Frankfurt · Berlin · Bornholm · Sarajevo · Paris
Sachbegriffe: Kriegsbeginn · Attentat von Sarajevo · Kriegsschuld · Kriegsschuldlüge · Militär · Schwerindustrie · Engländer
Empfohlene Zitierweise: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 20: Kriegsbeginn, Propagandalügen, Kriegsschuldfrage“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/29-1> (aufgerufen am 26.04.2024)