Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920

Abschnitt 9: Nahrungsmangel und Ausweichen auf Ersatzstoffe

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Die Frühjahrswitterung war 1916 eine recht günstige, so daß den Landwirten viel Grünfutter zur Verfügung stand. Später – besonders auch zu Erntezeit – regnete es viel, wodurch die Arbeit vielfach erschwert wurde. Auch benachteiligte die zu feuchte Witterung die Entwicklung der Kartoffel, was sich bei deren Ernte recht unangenehm fühlbar machte. Wiederholt wurde im Laufe des Sommers und Herbstes 1916 Viehbestandsaufnahmen gemacht. Die Preise für Fahr- und Schlachttiere gingen ungemein in die Höhe. Man zahlte jetzt für Pferde, meist alte Klepper, 2000 – 2600 M, für eine Geschirrkuh 1400 – 1600 M, Kälbchen von 4 Wochen galten 150 – 200 M, alte Ziegen kamen auf 60 – 80 M, Ferkel kostete das Pärchen 6 Wochen alte 90 – 110 M. Das Schlachtvieh war besonders rar, wir konnten 3 Monate hindurch kein Stückchen frisches Fleisch bekommen; es ging auch ganz gut ohne das. Besonders machte sich auch ein großer Ölmangel bemerkbar. Wir erhielten Sonnenblumen-Samen zur Gratis-Verteilung an die Schüler, und bald konnte man in allen Gärten die hell-leuchtenden Riesenblumen prangen sehen. Wieviel deren Samenertrag einbrachte, habe ich leider nicht in Erfahrung bringen können. Zwecks Ölgewinnung sammelten wir auch Kirschen-, Pflaumen- und Zwetschenkerne und schickten 2 große Säcke voll nach Cassel. Eine Woche lang suchten meine Schüler auch alte Kupfer- und Messingsachen zusammen, die wir ans Artillerie-Depot nach Cassel sandten. Großen Schmerz bereitete es den Hausmüttern, als bald danach die Militärverwaltung alle kupfernen und messinge Gegenstände der Küche beanspruchte. Von hier wurden 2 große Wagen voll nach Niederaula gebracht, selbstredend wurde alles bezahlt. Manche Mutter war nun im Herbst in großer Verlegenheit, als sie Mus bereiten wollte, und es fehlte der Kessel, oder es sollte Schlachtefest sein, und man wußte die Würste nicht zu kochen. Doch der Krieg schafft für alles Ersatz; bald gab es gußeiserne Kessel, und auch diese Unannehmlichkeit war beseitigt. Da auch zu gleicher Zeit sich Gummimangel fühlbar machte, sammelten wir eine Woche hin-durch altes Gummi. Meine Schüler entwickelten wie immer eine rege Tätigkeit und eine große Kiste voll alter Gummiwaren kam zusammen. Die Gummireifen der Autos und Fahrräder wurden jetzt auch beschlagnahmt; nur in ganz wenigen Ausnahmefällen verblieben den Besitzern noch Reifen.

Um eine gerechte Verteilung aller Lebensmittel zu ermöglichen, gab es für sämtliche Bedarfsartikel und für jede Person Karten: Fleischkarten, wonach 1 erwachsene Person 200 g, Kinder unter 6 Jahren 100 g pro Woche an Fleischwaren empfangen durfte. So bekamen wir auch Zucker-, Seife-, Fett- und Petroleumkarten. An eins mußten wir uns jetzt auch gewöhnen – wenn's auch vielen schwer fiel – es gab fast keinen Bohnenkaffee mehr, und man mußte auch da wieder mit Ersatz vorlieb nehmen. Unseren Soldaten im Inlande braute man des Morgens statt dessen eine kräftige Mehlsuppe. Wer hätte so 'was je gedacht!

Immer rarer wurden auch Pfeffer, Tabak, Zigarren und Zigaretten, infolgedessen teurer, so daß das Pfund Pfeffer auf 12 – 16 M, eine einigermaßen rauchbare Zigarre auf 20 – 30 Pf. kam. Besonders verspürten unsere Großstädter die Knappheit der Nahrungsmittel an ihrem Leibe sehr. Sie kamen vielfach aus den Industriegegenden auf unsere abgelegenen Dörfchen, um einzukaufen, und sie bezahlten gerne, was ihnen nur abverlangt wurde. Leider wurden dabei vielfach Wucherpreise gefordert, obschon behördlich Höchstpreise festgesetzt waren. Recht schwierig war es, die so teuer erworbenen Lebensmittel mit in die Bahn zu bekommen, weil an allen Bahnhöfen bei jedem Personenzug das Auge des Gesetzes durch sein Dasein glänzte und sehr unangenehme Revisionen bei Verdächtigen vornahm.


Orte: Kassel · Kruspis · Niederaula
Sachbegriffe: Ersatzstoffe · Witterung
Empfohlene Zitierweise: „Die Schulchronik von Kruspis, 1914-1920, Abschnitt 81: Nahrungsmangel und Ausweichen auf Ersatzstoffe“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/24-9> (aufgerufen am 07.05.2024)