Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Amöneburg Karten-Symbol

Gemeinde Amöneburg, Landkreis Marburg-Biedenkopf — Von Susanne Gerschlauer
Basisdaten | Geschichte | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | Nachweise | Indizes | Empfohlene Zitierweise
Basisdaten

Juden belegt seit

1273

Lage

35287 Amöneburg, Mittelgasse 1 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen

erhalten

ja

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historisches Ortslexikon

Geschichte

Amöneburg, auf einem Basaltkegel im Amöneburger Becken liegend, ist bereits seit dem ersten Drittel des 8. Jahrhunderts Sitz einer christlichen Kirche.1 Der Ort erhielt vermutlich zu Beginn des 13. Jahrhunderts Stadtrechte. Die Herrschaft über die Stadt und das Oberamt Amöneburg lag seit etwa 1120 bis ins 19. Jahrhundert bei den Mainzer Erzbischöfen, im Mittelalter bei dem reichen Archidiakonat St. Stefan. Die Verwaltung erfolgte auf Grundlage einer Stadtverfassung, deren Umsetzung Schultheißen, Schöffen sowie Bürgermeister mit Beisitzern und Räten gewährleisteten. 1802 kam Amöneburg durch die Säkularisation an Kurhessen; 1866 übernahm Preußen die herrschaftliche Verwaltung.

Erste in Amöneburg lebende Juden sind 1273 dokumentiert.2 Im folgenden Jahrhundert sind Juden im Zusammenhang mit Schutzgeldzahlungen genannt, danach finden sich Nachweise über Amöneburger Juden erst wieder 1521.3 Gut ein Jahrhundert später werden zwei Juden erwähnt; 1659 hatten zwei Juden das Amt eines Beisitzers inne.4 In den 1830er Jahren lebten 59 Juden im Ort; 1855 gab es 10 Familien mit rund 65 Mitgliedern. Schon 1867 war die Zahl der in Amöneburg lebenden Juden auf 79 angestiegen, um 1895 auf 29 und 1925 auf nur noch acht Personen zu sinken. Grund für das zahlenmäßig rapide Zurückgehen der Amöneburger Juden kurz nach der Jahrhundertwende war die erhöhte Landflucht im Zusammenwirken mit der zunehmenden beruflichen Umorientierung der Juden u.a. bedingt durch ihre vollständige politische Emanzipation seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Durch die bis etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts schwankende Zahl der ortsansässigen Juden, die selten die für einen Gottesdienst notwendigen 10 Männer erreichten, bildeten die Amöneburger mit den Juden aus dem vier Kilometer entfernt liegenden Kirchhain eine Synagogengemeinde. Um 1712 gliederten sie sich für einige Zeit in die Synagogengemeinde Mardorf ein. Dort bestand bereits ein Betraum.5 Die finanzielle Lage der Synagogengemeinde in Amöneburg war seit ihrem Bestehen schlecht. Aufgrund der relativ kurzen Selbständigkeit der Gemeinde, ihrer geringen Größe und wiederholt geäußerter Bemerkungen über ihre geringen finanziellen Mittel kann von einer bescheidenen Ausstattung des Betraumes ausgegangen werden.6 Einer der Vorsitzenden der Synagogengemeinde war um 1830 Baruch Strauß.7 Auf Betreiben des zuständigen Provinzialrabbiners, Dr. Leo Munk, Marburg, löste sich die jüdische Gemeinde Amöneburg mit Wirkung zum 1. Januar 1900 auf und wurde mit der Synagogengemeinde Kirchhain vereinigt.8

Die jüdischen Amöneburger lebten überwiegend vom Handel mit Vieh, Land- und Kurzwaren. Zudem gab es um die Mitte des 19. Jahrhunderts drei Handwerker unter den jüdischen Bewohnern, einen Schuster, einen Metzger und einen Schlosser.9

Um 1939 lebten noch acht jüdische Amöneburger im Ort, 1941 noch sieben. Sie konnten rechtzeitig vor der systematischen Ermordung durch die Nationalsozialisten in die USA emigrieren. Alle anderen waren zuvor weggezogen.10

Betsaal / Synagoge

Vermutlich diente um 1772 ein kleiner Raum mit Dielenboden, einer Tür, drei Fenstern und zwei Fensterläden eines ansonsten zu Wohnzwecken genutzten Hauses der jüdischen Gemeinde als Betraum. Er lag in dem Haus, das der Witwe von Löb Abraham und Ruben Abraham gehörte, „bei der Linde“ in der Brücker Straße.11 Im Juni 1830 plante die Synagogengemeinde den Neubau einer Synagoge mit Lehrerwohnung und Schule. Das Grundstück lag in der Untergasse, nahe des sogenannten „Hainturms“. Die Gemeinde hatte es mit der darauf befindlichen Hofreite für 402 Gulden von dem nichtjüdischen Vorbesitzer Johannes Weber erworben,12 doch konnte die Planung aus unbekannten Gründen offenbar nicht umgesetzt werden. Der zuletzt genutzte und bekannte jüdische Betraum in Amöneburg befand sich in Räumen eines ansonsten als Wohnhaus genutzten Gebäudes in der heutigen Mittelgasse 1 (ehemals Nr. 47). Das Haus gehörte zur Nutzungszeit nach 1830 der jüdischen Familie Stern, die vermutlich der Synagogengemeinde den genutzten Raum vermietete. Das Haus wurde vor 1830 als Wohnhaus einer Hofreite mit kleiner Scheune und Gärtchen gebaut und hebt sich nicht wesentlich von der umgebenden Wohnbebauung ab. Zwei besondere Merkmale, die jedoch nicht auf eine synagogale Nutzung zurückzuführen sind, fallen auf: Zum einen bestimmt ein hohes Vollwalmdach das Erscheinungsbild des Hauses, zum anderen steht das Gebäude als eines der wenigen in der Straße mit der südwestlichen Traufseite zur Mittelgasse, was sich in Amöneburg an einigen größeren Gebäuden wiederfindet, im Gesamterscheinungsbild der Stadt jedoch eher selten ist. Die Positionierung quer zur Straße spricht für einen teureren Bauplatz und größere Repräsentanz, da höherer Platzverbrauch damit verbunden ist als von giebelständig stehenden Gebäuden.

Das zweigeschossige Wohnhaus mit einer rund 115 Quadratmeter großen Grundfläche steht etwa 50 Meter vom Ortskern nach Nordosten entfernt. Der nordwestliche Ortsrand mit Stadtmauer am „Lindauer Tor“ ist etwa 80 Meter entfernt. Das Unter- und Obergeschoss war bauzeitlich in Fachwerk ausgeführt, wobei die regelmäßige Anordnung der fünf Fensterachsen der Südwesttraufe auf das beginnende 19. Jahrhundert als Bauzeit hinweisen. Erhebliche bauliche Veränderungen des Jahres 1966 bestimmen heute das Erscheinungsbild der Straßenansicht. Das Untergeschoss wurde in Massivbauweise erneuert und verputzt, das Fachwerk des Obergeschosses mit Zementplatten verkleidet, die etwa 50 Zentimeter hohe Sockelzone mit senkrechten Klinkerriemchen verblendet. Die Südwestfassade besitzt in der zweiten Fensterachse von Westen im Erdgeschoss eine einflügelige Haupteingangstür, die über eine zweistufe Außentreppe erreichbar ist. Die Nordosttraufe weist heute vier Fensterachsen auf. Ein Hintereingang, etwa gegenüber vom Haupteingang angelegt, erschließt die Gebäudeseite von Norden her. Sowohl West- wie Osttraufe besitzen derzeit keine Tür- oder Fensteröffnungen und sind analog zu beiden Langseiten horizontal durch Sockel, Verputz und Zementplattenverkleidung gegliedert. Zur Nutzungszeit als Betraum war im nordwestlichen Teil des Erdgeschosses ein kleiner Gemischtwarenladen untergebracht, der von den Hauseigentümern, der Familie Stern, betrieben wurde.13 Zugang zum Laden im Nordwesten und Betraum – vermutlich im südöstlichen Erdgeschoss – erfolgte über einen Flur, der sich an die Haupteingangstür anschloss.

Der Betraum war wahrscheinlich nach Südosten ausgerichtet und mit Frauen- und Männerbänken ausgestattet. Eine Bundeslade zur Aufbewahrung der Thorarolle(n) und ein Vorlesepult zählten zum Bestand. Über weitere Details zur Raumgestaltung ist bisher nichts bekannt.14 Im Jahr 1993 wurden unter anderem im Bereich des ehemaligen Betraumes (ca. 20 Quadratmeter) Umbauten vorgenommen. Dabei wurde der ehemals aus zwei Räumen bestehende Südostbereich des Erdgeschosses durch Abbruch der trennenden östlichen Wand zu einem rund 30 Quadratmeter großen Raum erweitert.15

Das Gebäude blieb während der Pogromnacht am 9. zum 10. November 1938 von Beschädigungen verschont, da hier seit 1899 kein Betraum mehr bestand und das Gebäude rein zu Gewerbe- und zu Wohnzwecken genutzt wurde. Nach Angaben von Nachbarn konnten die Eigentümer, Familie Stern, fliehen; sie veranlassten nach dem Krieg über einen Notar den Verkauf ihres Hauses.16 Einer anderen Angabe zufolge „gelangte“ das Haus bereits während des Nationalsozialismus an eine nichtjüdische Familie, deren Nachkommen es bis heute bewohnen.17

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Im Wohnhaus des Martge Ruben (ca. 1760–1830), der sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts Marcus Rotschild nannte, befand sich um 1825 eine Mikwe. Im Wohnhaus des Baruch Strauß gab es um 1825 ebenfalls ein rituelles Tauchbad. Nachgewiesen ist, dass sie in tiefen, gewölbten Kellern lagen und gleichzeitig als Brunnen genutzt wurden. In einer Verfügung von 1827 verbot die zuständige Marburger Behörde die Nutzung als rituelles Tauchbad.18

Schule

Erste Hinweise auf Religionsunterricht liegen aus dem Jahr 1772 vor, als sich im privaten Wohnhaus der Witwe von Löb Abraham eine Schulstube befand.19 Die Unterrichtssituation der jüdischen Kinder in Amöneburg war abhängig von der Zahl der Kinder. Um 1820 beantragten die in Amöneburg lebenden Juden die Aufnahme eines Religionslehrers für ihre Kinder im Ort,20 doch besuchten diese um 1835 die Elementarschule in Kirchhain.21 Bis 1879 bildeten die Amöneburger mit den Kirchhainer Juden einen Schulverband für den Religionsunterricht, dessen Lehrer von beiden Gemeinden finanziert wurde. Anschließend wurden die Amöneburger Kinder in den eigenen Räumen am Ort unterrichtet,22 die die Synagogengemeinde in dieser Zeit eingerichtet hatte.23 Als sich sechs Jahre später die Anzahl der jüdischen Kinder weiter reduziert hatte, wurde dieser Unterricht offenbar eingestellt und die Kinder gemeinsam mit christlichen Kindern in der Amöneburger Volksschule unterrichtet.24

Friedhof

Die Amöneburger Juden begruben ihre Verstorbenen auf dem jüdischen Friedhof in Kirchhain.

Kirchhain, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Nachweise

Weblinks

Quellen

Literatur

Abbildungen

Indizes

Personen

Baruch Strauß · Munk, Dr. Leo · Löb Abraham, Witwe · Ruben Abraham · Weber, Johannes · Stern, Familie · Martge Ruben · Rothschild, Marcus · Baruch Strauß

Orte

Kirchhain · Mardorf · Marburg · USA · Amöneburg, Hainturm

Sachbegriffe Ausstattung

Bundesladen · Thorarollen · Vorlesepulte

Sachbegriffe Architektur

Walmdächer · Vollwalmdächer · Fachwerk · Klinker · Zementplatten

Fußnoten
  1. A. Schneider, Kirchhain, S. 28
  2. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 10
  3. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 43
  4. Ortsartikel Amöneburg auf LAGIS, Historisches Ortslexikon (siehe Link oben); Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 43
  5. Schubert, Kirchhain, S. 16 f; Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 12
  6. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 13
  7. A. Schneider, Kirchhain, S. 37
  8. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 12 f.
  9. A. Schneider, Kirchhain, S. 34 f.
  10. A. Schneider, Kirchhain, S. 56; vgl. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 43
  11. A. Schneider, Kirchhain, S. 33, 35
  12. HStAM 19, h 548; A. Schneider, Kirchhain, S. 37, widerlegt die Angabe aus Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 12, das in der Quelle beschriebene Gebäude sei das in der Mittelgasse gelegene, indem er es als in der Untergasse, im Osten der Stadt stehend, identifiziert.
  13. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 13
  14. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 12
  15. Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 17
  16. Nach Angaben der Hausnachbarn, vgl. auch Gerschlauer/Klein, Marburg-Biedenkopf, S. 13
  17. A. Schneider, Kirchhain, S. 37
  18. A. Schneider, Kirchhain, S. 34
  19. A. Schneider, Kirchhain, S. 33.
  20. HStAM 33 b, 99
  21. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 43
  22. HStAM 19, h 548
  23. Israelititsche Religionsschule zu Amöneburg, Kreis Marburg, 1868–1883, in HStAM166, 4035
  24. A. Schneider, Kirchhain, S. 37
Empfohlene Zitierweise
„Amöneburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/syn/id/26> (Stand: 22.7.2022)