Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 11: Langfristige Folge der Unterernährung der Kinder

[185-186] Während aber bei den Erwachsenen der Tod eine strenge Auslese hielt, lief die Sache bei den Kindern ganz anders. Sie starben nicht. Sie blieben nur schwächlich, vermindert arbeits- und lebensfähig, ohne richtige Lebenskraft. Wir hatten unmittelbar nach dem Krieg eine starke Verminderung der quantitativen Arbeitsleistung festzustellen, die zu einem Teil zwar auf die Kriegseinflüsse, zu einem anderen aber zweifellos auf die verminderte Arbeitsfähigkeit der in das Arbeitsalter hineinwachsenden Jugendlichen zurückzuführen ist. Das hat sich im Lauf der Jahre ausgeglichen. Ja, die Arbeitsleistung hat sich sogar quantitativ und auch qualitativ über den Vorkriegsstand erhöht, ein Erfolg, der allerdings zu einem wesentlichen Teil auf das Konto des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts zu verbuchen ist.

Mir fällt in diesem Zusammenhang das Wort eines Franzosen ein, der auf die Frage eines hohen deutschen Funktionärs: „Einmal wird doch der Tag kommen, an dem wir unseren Reparationspflichten genügt haben und dann als ein arbeitstüchtiges Volk dastehen werden?“, antwortete: „Dieser Tag darf eben nie kommen!“ Er ist doch gekommen und das, was Deutschland in den Nachkriegsjahren an Leistung und Opfer zuwege gebracht hat, hat der Welt dargetan, dass man dies von Grund auf pflichtgetreue, fleißige und in arbeitstechnischer und wissenschaftlicher Beziehung glänzend durchorganisierte Volk aus dem Getriebe der Weltwirtschaft und Weltpolitik nicht ausschalten kann, ohne dass die Welt selbst empfindlich geschädigt wird. Das gilt, obwohl noch manches Jahr dahingehen wird, bevor die biologischen Kriegsschädigungen gänzlich überwunden sein werden. Schlechter geworden ist es zum Beispiel bei uns in Deutschland mit der Fähigkeit zur gesunden Mutterschaft. Wir wollen hier die mannigfachen kulturellen, zivilisatorischen, arbeitstechnischen und rein persönlichen Tendenzen außer [S. 186] Acht lassen, die zu einer Minderung der Geburten und der Geburtenwilligkeit geführt haben, und uns einzig auf die Feststellung beschränken, dass ein großer Teil der jungen Mütter von heute, die bei Ausbruch des Krieges fünf bis 15 Jahre alt waren, durch den Krieg in einem Maße körperlich geschädigt wurden, das sie unfähig macht, den Geburtsvorgang ohne Beeinträchtigung ihrer vitalen Kraft zu bestehen und sich rasch davon zu erholen, wie das früher die Regel war. Ich kann mich dafür freilich nicht auf eine wissenschaftlich fundierte Erfahrung, sondern nur auf meine Beobachtungen und vielleicht darauf berufen, dass Gynäkologen von der Autorität eines Max Hirsch1 z. B. von einer außerordentlichen Zunahme der operativen Geburtshilfe (hier in der Hauptsache allerdings auf eine bestimmte Arbeiterinnenschicht, Textilarbeiterinnen, bezogen) zu berichten wissen. Wie dem auch sei, das grausame Wort jenes Franzosen von dem Aussehen der Geborenen wie bei Boches von 1940 dürfte leider in gewissem Umfange zutreffen. Zum Glück nur in gewissem Umfang, denn in Wandern, Sport und Spiel, in den Bemühungen um gesundes Wohnen und gesunde Lebensführung wurde diesen Tendenzen ein glückliches Gegengewicht geschaffen.


  1. De Gynäkologe und Sozialhygienike Max Hirsch (1877-1948).

Personen: Fürth, Henriette · Hisch, Max
Orte: Frankfurt
Sachbegriffe: Hunger · Unterernährung · Geburten · Geburtshilfe · Frauen · Arbeiterinnen
Empfohlene Zitierweise: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 23: Langfristige Folge der Unterernährung der Kinder“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/29-11> (aufgerufen am 05.05.2024)