Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 13: Erlebnisse in der Auskunftsstelle des Lebensmittelamts

[187-188] In der Auskunftsstelle eines Lebensmittelamtes

Ich habe in diesen Tagen unser Volk bewundern gelernt. Nicht nur jene, die da draußen in den Schützengräben ihr Letztes an Kraft und Leistung hingeben, um dem Vaterland zu dienen. - Nicht nur jene anderen, die in diesem dritten Kriegsfrühling das Feld bestellen und dabei das Unmögliche möglich machen, um dem Boden das Brot für alle abzuringen, sondern auch und erst recht jene anderen, das Volk, das im Dienste des Vaterlandes zu hungern weiß. Wollt ihr Würde, Größe, Kraft und Opfermut des deutschen Volkes kennen lernen, so begleitet mich in die Auskunftsstelle eines Lebensmittelamtes.

Auskünfte sollten dort erteilt, der Ariadnefaden im Labyrinth der Verordnungen sollte dort den Fragenden in die Hand gegeben werden. Aber unversehens schickte sich diese bescheidene Stelle an, mehr, weit mehr zu werden, als eine einfache Auskunftsstelle. Nicht nur um Auskunft strömten sie hin. Rat wollten sie sich holen, Rat und Beistand. Tausende zogen Tag um Tag an diesen Schaltern vorbei und indem sie kamen und gingen, lerntest du sie kennen und tatest einen tiefen und in der Hauptsache erfreulichen Blick in die Tiefe der Volksseele. Ohne Maske erschienen sie vor dir, der gleichgültigen Schalterbeamtin, waren [S. 188] bescheiden oder keck, freundlich oder barsch, zufrieden und anmaßlich — je nachdem. Kultivierte Menschen, die für Rat und Auskunft mit Blick und Wort dankten und die es dich nicht entgelten ließen, wenn du ihnen nicht helfen und raten konntest. Augen, die aufleuchteten, Schultern, die sich strafften, wenn du einen Ausweg aus einer Verlegenheit zeigen oder in irgendeinem Sinne helfen konntest.

Es kamen freilich auch rabiate Gesellen und Gesellinnen. Sie nannten dich hartherzig und lieblos. Sie warfen dir dein gutes Aussehen vor. Sie schrien. Sie schlugen auf den Schalter, dass es dröhnte. Sie drohten ihre Kinder herzusetzen oder sie dem Bürgermeister aufs Rathaus zu bringen, wenn man ihren Wünschen nicht willfahre. Sie beschimpften dich auf alle Weise. Mit einem Wort: Sie benahmen sich wie ungebildete Menschen, die Hunger haben. Man nahm es ihnen nicht übel, denn die Armen hatten wirklich Hunger. Sie litten wirklich Not, sie fühlten sich wirklich benachteiligt und unbefähigt, die inneren Zusammenhänge und Notwendigkeiten dieser Benachteiligung, dieser Härte und dieses Versagens einzusehen; so brachen sie los, wenn man ihrem Drängen nichts weiter zu geben vermag als eine Auskunft oder einen Rat.


Personen: Fürth, Henriette
Orte: Frankfurt
Sachbegriffe: Lebensmittelämter · Hunger · Ernährungslage
Empfohlene Zitierweise: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 13: Erlebnisse in der Auskunftsstelle des Lebensmittelamts“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/29-13> (aufgerufen am 29.04.2024)