Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 27: IV. "Maikoller"

[79-80] 6. Mai.
Franz ist heute merkwürdig ruhig. Und hat doch noch nie den Sonntag geheiligt!

Ein lautes, fröhliches Treiben herrscht in und hinter der feindlichen Linie. Franz begießt sich tüchtig die Nase. Feiert er einen neuen „Sieg" in der Champagne — oder den Geburtstag des deutschen Kronprinzen?
In den anderen Nächten aber schanzt und arbeitet er eifrig. Die Feldbahn fährt bis zum Waldrand dicht hinter den Gräben.
Zuweilen dringt durch die reine Nachtluft ein leiser Chlorgeruch und durch die Stille ein verwehter Klang wie von klirrendem Eisen.

Gasflaschen?

7. Mai.
Die Flieger werden auf beiden Seiten immer dreister. Sie fliegen so tief, daß sie fast mit einem Steinwurf zu erreichen sind.

8. Mai.
Die Bereitschaftskompagnie kommt vom Schanzen zurück. Ein Mann hinter dem andern. Ein langer, langer Zug. Abgearbeitet, müde, lehmbeschmiert. Den Kopf zur Erde gesenkt. Es ist nicht leicht, auf dem [S. 80] Knüppeldamm oder in Windungen um Granat- und Minentrichter herumzugehen. Alle stumm, langsam schreitend; nicht rechts, nicht links, immer zum Boden sehend: ein langer, stiller Zug. Ein Bild der abgehärmten Menschheit, die müde und doch voll heißer Sehnsucht einer Stätte zuwandert, da sie Frieden finden soll.

10. Mai.
Französische Flieger haben Flugblätter abgeworfen: „An die Elsaß-Lothringer der . . . Inf.-Div.", die zum Ueberlaufen aufgefordert werden.

Sie haben's doch schon herrlich weit gebracht!

11. Mai.
Man könnte den Maikoller bekommen, so blühen Kirschen und Schlehdorn, so duften die Linden, so schmeichelt die warme Luft um die entblößte Brust, so rauscht die Madine und klingen heimatliche Lieder aus Soldatenmund fern verhallend durch die Nacht . . .
Eine Gemütskrankheit, gegen die der Krieg ein gutes Serum ist.
Der Mai ist überall schön. Nur im Kampfgelände nicht, wo nicht Frühling, nicht Herbst ist, das umgewühlt ist wie von einem riesigen Schwein.

15. Mai.
Wir werden von einem Garderegiment abgelöst, um, wie der General sagte, an einer „Hauptkampffront" eingesetzt zu werden.
Wird schon nicht so schlimm werden.


Personen: Egly, Wilhelm · Franz · General
Orte: Elsass-Lothringen · Friedberg
Sachbegriffe: Chlor · Eisen · Feldbahn · Flieger · Flugblätter · Frieden · Regiement · Geburtstag · Gräben · Kirschen · Linden · Schlehdorn · Sehnsucht · Tagebücher
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 1: IV. "Maikoller"“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-27> (aufgerufen am 01.05.2024)